Der neue Film

"Ein Schweigen": Blick in menschliche Abgründe

In „Ein Schweigen“ erzählt Joachim Lafosse angelehnt an wahre Ereignisse und auf betont nüchterne Weise von einem dunklen Familiengeheimnis und verdrängter Schuld

Von 
Wolfgang Nierlin
Lesedauer: 
Daniel Auteuil als François Schaar in dem Film „Ein Schweigen“. © Kris Dewitte/epd

Eine Frau, merklich angespannt und nervös, fährt mit ihrem Auto zu einem wichtigen Termin. Der Ausdruck ihres Gesichts wird über den Rückspiegel vermittelt, bleibt also Ausschnitt einer indirekten, distanzierten Inszenierung und ist doch nah, während alle Umrisse und Hintergründe unscharf sind.

Astrid Schaar (Emmanuelle Devos), so der Name der Frau, gibt kurz darauf gegenüber der Kommissarin Valérie Colin (Jeanne Cherhal) Auskunft über die mutmaßlichen Umstände, die zu einer auf den ersten Blick unverständlichen Tat geführt haben. Demnach hat ihr Adoptivsohn Raphaël versucht, ihren Mann François (Daniel Auteuil) zu ermorden. Dieser ist ein ebenso angesehener wie renommierter Rechtsanwalt, der sich, begleitet von großem Medieninteresse, seit fünf Jahren mit Fällen schweren Kindesmissbrauchs beschäftigt, die offensichtlich weite Kreise ziehen. Als Verteidiger einer Opferfamilie wirft Schaar der Polizei und der Justiz Versagen vor. Erschöpft und unter Druck, gerät er durch eigene Verfehlungen und privates Versagen aber selbst immer mehr ins Zwielicht.

Es rumort im Innern einer dysfunktional gewordenen Familie

Angelehnt an die Affäre um den belgischen Anwalt Victor Hissel, der neben anderen die schrecklichen Taten des Kinderschänders und Mörders Marc Dutroux ermittelte, beschäftigt sich Joachim Lafosse in seinem neuen Film „Ein Schweigen“ („Un silence“) mit den Abgründen und Schattenseiten der bürgerlichen Ordnung. Diese wird von mühsam Verdrängtem, von Heimlichkeiten und Schweigen beherrscht. Während ein selbstverständlicher Wohlstand für äußere Stabilität sorgt, rumort es im Innern einer dysfunktional gewordenen Familie. Raphaël (Matthieu Galoux) wird verwöhnt und versagt in der Schule; seine Schwester Caroline (Louise Chevillotte) konfrontiert den Vater mit einer dunklen Vergangenheit; und Astrid, die im Zentrum des nachdenklichen Films steht, versucht unter widerstreitenden Gefühlen, die Familie zusammenzuhalten. Sie sorgt sich um ihren Sohn, lässt möglicherweise belastende Dokumente verschwinden und lebt neben ihrem Mann her wie eine Fremde.

Mehr zum Thema

Der neue Film

Debüt "Problemista" ist verqueres Kopfkino in bester Tradition

Veröffentlicht
Mehr erfahren
Der neue Film

"Bad Boys 4": Stil vor Substanz

Veröffentlicht
Von
Gebhard Hölzl
Mehr erfahren
Der neue Film

Helen Mirren in "Golda - Isreals eiserne Lady": Powerfrau und Kettenraucherin

Veröffentlicht
Von
Gebhard Hölzl
Mehr erfahren

Nach der Exposition auf dem Kommissariat erzählt Joachim Lafosse betont undramatisch, aber zugleich präzise eine Vorgeschichte voller Andeutungen und Auslassungen. Durch einen gebremsten, sehr kontrollierten Informationsfluss, der mehr einen inneren Spannungsaufbau jenseits äußerlicher Effekte bewirkt, werden die Umrisse und Hintergründe der Erzählung erst allmählich sichtbar. Mit seiner betont nüchternen Inszenierung und einer elliptischen Erzählweise stellt der belgische, 1975 geborene Regisseur Fragen, ohne Antworten zu geben, er blickt in menschliche Abgründe, ohne vorschnell zu verurteilen.

Was bringt den Menschen dazu, eine auf den ersten Blick unverständliche Tat zu begehen? Die Wahrheit scheint vielfältig zu sein. Ihm gehe es darum, die Wirkungen von Scham und verdrängter Schuld sowie die Verletzlichkeit hinter dem Schweigen zu erforschen. „Verstehen, was passiert ist“, heißt es gleich zu Beginn des Films. Die oft aus der Distanz und im Dunkeln aufgenommenen Figuren sind bildlich immer wieder eingeschlossen, isoliert oder fragmentiert. Sie sind sich selbst fremd und scheinen ihren Handlungen förmlich ausgeliefert zu sein.

Freier Autor

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen

VG WORT Zählmarke