Es ist ein sonniger Tag, dieser Donnerstag, der 19. September 1991, an dem Helmut und Erika Simon aus Nürnberg in den Ötztaler Alpen unterwegs sind. Als die beiden eine mit Schmelzwasser gefüllte Felsmulde passieren, da fällt ihnen etwas Bräunliches auf. Zunächst halten sie es für Müll, doch als sie näherkommen, stellen sie zu ihrem Entsetzen fest, dass es sich um die Leiche eines Menschen handelt.
Sie können nicht ahnen, dass sie am Beginn einer Sensation stehen: des größten archäologischen Fundes seit der Entdeckung des Pharaos Tutanchamun 1922. Die älteste vollständige Mumie Mitteleuropas, mehr als 5000 Jahre alt. Dass sie so gut erhalten ist und sogar besichtigt werden kann, das scheint jedoch ebenso ein Wunder zu sein wie der Fund selbst, wenn man die skurrilen Umstände ihrer Bergung beleuchtet.
Einen Tag nach der Entdeckung des Toten startet der österreichische Gendarm Anton Koler einen ersten Bergungsversuch. Mit einem Pressluft-Meißel versucht er, die Leiche aus dem Eis freizulegen. Dabei wird, wie sich später zeigen wird, die linke Hüfte des Toten erheblich beschädigt. Nach einer halben Stunde ist der Körper zur Hälfte freigelegt, doch die Gasflasche des Gerätes leer. Die Aktion wird abgebrochen.
Auch am folgenden Tag kann sie nicht fortgesetzt werden: Es steht kein Hubschrauber zur Verfügung. Hüttenwirt Markus Pirpamer und seine Küchenhilfe begeben sich zur Fundstelle, um den Toten mit einem Plastiksack abzudecken und vor Wochenend-Touristen zu schützen.
Skurrile Bergungsversuche
Unter denen sind an jenem Samstag zufällig auch die Extrembergsteiger Reinhold Messner und Hans Kammerlander. Auch sie versuchen, die immer noch zur Hälfte im Eis steckende Leiche freizulegen, Messner mit Hilfe seines Skistocks. Doch er erkennt auch als erster die Dimension dieses Fundes, schätzt sein Alter immerhin auf bis zu 3000 Jahre.
Am Tag darauf macht sich Bergrettungsobmann Alois Pirpamer mit Helfern auf den Weg zur Fundstelle. Beherzt befreit er die Mumie mit Pickeln weiter vom Eis und packt herumliegende Gegenstände in einen Plastikmüllsack, den er schließlich lässig über seine Schultern wirft.
Erst vier Tage nach dem Fund, am 23. September, wird die Mumie unter Leitung des Gerichtsmedizinischen Instituts der Uni Innsbruck fachgerecht geborgen, mit einem Hubschrauber nach Vent geflogen und in die Gerichtsmedizin verbracht. Die Staatsanwaltschaft eröffnet – immerhin gibt es eine Leiche – ein Ermittlungsverfahren mit dem Aktenzeichen ST 13 UT 6407/91, wobei UT für unbekannter Täter steht.
Erst am folgenden Tag wird endlich ein Archäologe hinzugezogen: Konrad Spindler, Ordinarius für Ur- und Frühgeschichte an der Universität Innsbruck, schätzt das Alter der Mumie auf „mindestens 4000 Jahre“. Und er sorgt dafür, dass sie gerettet wird. Denn inzwischen beginnt die lediglich in einem Holzsarg transportierte Leiche, auch dem Geruch nach vernehmbar, aufzutauen. Mit allen Mitteln der Technik wird sie auf minus sechs Grad Celsius gekühlt.
„Staatsangehörigkeit“: Italien
Längst hat sich die Sensation herumgesprochen. Die Mumie beginnt ihre mediale Karriere, die mindestens so eindrucksvoll wird wie ihre wissenschaftliche. Es ist denn auch die Presse, die dem Toten seinen Namen verpasst. In einem Bericht vom 26. September 1991 prägt die Wiener „Arbeiter-Zeitung“ unter Anlehnung an den Fundort im Ötztal den Begriff „Ötzi“. Den Namen wird der Tote nie wieder los. Die wissenschaftliche Bezeichnung „Jungleonitische Mumie aus dem Gletscher von Tisenjoch“ ist ja auch viel zu kompliziert. Die einfachere Version lautet in Italien „Mann aus dem Eis“, in Österreich „Mann im Eis“. Was von einem weiteren heiklen Thema zeugt.
Zu klären ist nun nämlich auch die Eigentumsfrage: Liegt der Fundort auf österreichischem oder auf italienischem Territorium? Die Frage führt in die sensible Geschichte dieser Region, birgt damit auch aktuellen politischen Sprengstoff.
Als Folge des Ersten Weltkrieges muss Österreich, das an der Seite Deutschlands zu dessen Verlierern zählt, den südlichen Teil Tirols an Italien abgeben, das zu den Siegermächten gehört. Jahrhundertelang deutschsprachige Gebiete gehören fortan zu Italien – ein Umstand, den übrigens sogar Adolf Hitler in seiner „Heim-ins-Reich“-Politik aus Rücksicht auf seinen faschistischen italienischen Verbündeten Benito Mussolini nicht rückgängig macht.
Besuch bei Ötzi
Fundstelle: Auf 3210 Metern Höhe im Tisenjoch in den Ötztaler Alpen in Südtirol (Italien).
Besichtigung der Fundstelle: Von der Bergstation der Schnalstaler Gletscherbahn führt eine Hochgebirgstour über den Hochjochferner hinab zum Tisenjoch, der Fundstelle. Dauer: sieben Stunden. Es werden geführte Wanderungen angeboten, für die dann auch die notwendige Ausrüstung bereitgestellt wird. Weitere Informationen im Internet unter: bergfuehrer-schnals-passeier.com.
Ötzi-Museum: Zur Präsentation der Mumie besteht in der Altstadt von Bozen (Südtirol/Italien) ein eigenes Archäologiemuseum, daher vereinfachend „Ötzi-Museum“ genannt. Es zeigt jedoch nicht nur die Mumie, sondern auch eine wissenschaftliche Rekonstruktion von Ötzi sowie die bei ihm gefundenen Gegenstände (Dolch, Beil etc.) und ordnet diese Funde in den historischen Kontext ein. Weitere Infos: www.iceman.it.
Besichtigung der Mumie: Interessierte können die Mumie durch ein 40 mal 40 Zentimeter großes Fenster betrachten. Da sie zu diesem Zweck in einer Schlange laufen oder stehen, ist die Dauer dafür bei großem Besucherandrang aber begrenzt. Fotografieren der Mumie ist nicht gestattet.
Weitere Angebote: Erlebnisraum für Kinder und Museumsshop mit Ötzi-Devotionalien verschiedenster Art.
Öffnungszeiten: Täglich von 10 bis 18 Uhr. Eintritt nur mit Grünem Pass möglich (Covid-19-Impfnachweis).
Literatur: Seriöse Quelle ist das 120 Seiten starke Buch „Ötzi, der Mann aus dem Eis“, verfasst von Museumsdirektorin Angelika Fleckinger. -tin
Als neue Grenze zwischen Österreich und Italien wird 1919 im Friedensvertrag von St. Germain die Wasserscheide zwischen Inn- und Etschtal festgelegt. Der Bereich des Fundortes der Mumie ist damals jedoch von einer 20 Meter hohen Schneeschicht bedeckt, die Grenze hier nicht genau bestimmbar. Sie wird daher über den Gletscher gezogen. 1991 jedoch ist dieser einstige Gletscher auf Grund des Klimawandels weitgehend abgeschmolzen. Wo also verläuft nun die Grenze?
Am 2. Oktober 1991 erfolgt eine Neuvermessung. Sie ergibt: Der Fundort befindet sich 92 Meter und 56 Zentimeter von der Grenze entfernt auf dem Staatsgebiet Italiens. Dessen Region Südtirol erhebt dann auch Anspruch auf die Mumie. Am 16. Januar 1998 wird sie von Innsbruck nach Bozen überführt. Extremisten drohen mit Anschlägen, so dass höchste Sicherheitsvorkehrungen gelten. Ötzi erhält auf seiner Reise im eigens umgebauten Kühlwagen eine umfangreiche Polizeieskorte auf der zu diesem Zweck komplett gesperrten Brenner-Autobahn.
Viele Fragen offen
Im eigens dafür eingerichteten Museum in Bozen werden jene Untersuchungen fortgesetzt, die in Innsbruck begonnen haben. So steht fest: Die Mumie ist mehr als 5000 Jahre alt, Ötzi lebt zwischen 3350 und 3100 vor Christus. Er ist bereits 600 Jahre tot, als in Ägypten der Pharao Cheops die nach ihm benannte Pyramide bei Kairo errichten lässt.
Die Experten finden außerdem heraus, dass Ötzi – bei einer Abweichung von minus oder plus fünf Jahren – im Alter von 45 Jahren gestorben ist. Zu seinen Lebzeiten ist der Mann 1,60 Meter groß, hat Schuhgröße 38 und wiegt 50 Kilogramm – alles durchschnittliche Werte für einen Menschen in der Kupferzeit. Er hat braune Augen und besitzt nahezu keine Körperbehaarung. Sein Kopfhaar ist gut neun Zentimeter lang, gewellt und dunkelbraun bis schwarz. Und er trägt einen Vollbart.
Doch wie ist er gestorben? Erst 2001 kann dieses Rätsel gelöst werden: Durch genauere Röntgenverfahren entdecken die Forscher eine Pfeilspitze in seiner linken Schulter, welche die Arteria subclavia getroffen hat. Ötzi ist in kurzer Zeit verblutet, obwohl er noch versucht, sich den Pfeil aus der Wunde zu ziehen. Er ist also ermordet worden.
Viele Fragen aber sind nach wie offen. Wer hat ihn getötet? Und warum? Wer war Ötzi überhaupt? Beil und Dolch, die bei ihm gefunden werden, deuten darauf hin, dass er eine gehobene Stellung in seiner sozialen Gemeinschaft hat.
Mit sterilem Wasser besprüht
Die Wissenschaftler setzen sich jedoch das Ziel, die Mumie nicht nur zu untersuchen, sondern auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Modernste Technik wird genutzt. „Der Körper wird mit sterilem Wasser besprüht, so dass sich an der Oberfläche eine feine Eisschicht bildet“, erläutert der Pathologe Eduard Egarter Vigl, viele Jahre für die Konservierung der Mumie zuständig.
Der Raum, in dem sich Ötzi befindet, hat minus sechs Grad Celsius Temperatur und 99 Prozent Luftfeuchtigkeit. Beides wird rund um die Uhr elektronisch überwacht und automatisch Alarm ausgelöst, sobald sich Veränderungen zeigen sollten. Bei Stromausfall springen Notfallaggregate an.
Durch ein 40 mal 40 Zentimeter großes Fenster können Interessierte die Mumie betrachten. Kaum einen lässt dieser Anblick kalt. Doch von Anfang an fragen sich viele Menschen: Wie sah Ötzi aus? „Im Grunde unterscheidet sich die Physiognomie des Mannes aus dem Eis nicht von der heute lebender Menschen“, betont Angelika Fleckinger, die Direktorin des Bozener Museums.
Mit Hilfe modernster gerichtsmedizinischer Methoden, wie sie zur Identifizierung skelettierter Leichen genutzt werden, fertigen die Niederländer Adrie und Alfons Kennis eine Rekonstruktion an. Dabei fließen Erkenntnisse aus der Archäologie und der Anthropologie mit ein. Beispiel: Obwohl Ötzi erst Mitte 40 ist, als er stirbt, sieht er im Modell bewusst älter aus, ist seine Haut doch mit Sicherheit vom Leben in Wind und Wetter geprägt gewesen.
Ungeachtet dessen und trotz des zeitlichen Abstandes von fünf Jahrtausenden sieht uns dieser Mann aus dem Eis frappant ähnlich. Ein Blick in seine Augen erscheint manchem Besucher denn auch wie einer in die eigene Vergangenheit.
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