Man stelle sich vor: Eine 3,60 Meter hohe Betonmauer, flankiert von Stacheldraht und Panzersperren, mitten durch Mannheim. Etwa entlang der Planken, direkt vor den Fenstern der Geschäftshäuser. Spaltung einer pulsierenden Großstadt und ihrer Bevölkerung. Und von Familien, die zueinander nicht mehr kommen können. Eine Grenzlinie, an der geschossen und gestorben wird, sobald man sie überwinden will. Ein Alptraum. Für die Millionenmetropole Berlin eine Realität, die am 13. August 1961 beginnt und 28 Jahre lang, bis 1989, währt.
Rückblende: Nach Kriegsende 1945 ist Berlin wie ganz Deutschland in vier Besatzungszonen eingeteilt. Doch noch können sich die Berliner in ihrer Stadt weitgehend frei bewegen. Die Stadt bleibt ein Schlupfloch, um aus der DDR zu fliehen; die Fahrt mit U- oder S-Bahn reicht aus. 1,6 Millionen DDR-Bürger nutzen dies zwischen 1949 und 1961.
Ulbrichts berühmte Lüge
Sowjets und die DDR sehen das mit Argwohn, wollen dieses Schlupfloch schließen. In der Pressekonferenz vom 15. Juni 1961 verrät SED-Chef Walter Ulbricht sich und seine Pläne. Annamarie Doherr („Frankfurter Rundschau“) fragt, ob die „Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird“. Ulbricht antwortet: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Doch nach einer Mauer hat gar niemand gefragt. Am 12. August 1961 unterzeichnet Ulbricht den Befehl zur Abriegelung der Grenze. Die Umsetzung überträgt er einem, der sich dadurch für Höheres „qualifiziert“: dem späteren Parteichef Erich Honecker.
In der Nacht zum 13. August marschieren Uniformierte an der Demarkationslinie auf, entrollen Stacheldraht, errichten Barrikaden. Die Berliner sind ahnungslos. Sie schlafen, und es ist Sonntag. Als sie erwachen, sind sie im Osten eingemauert. Im Westen verlangen sie mit ihrem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt Reaktionen der Amerikaner.
Doch US-Präsident John F. Kennedy bleibt auf seiner Jacht. Wegen Berlin ein Atomkrieg, das kommt für ihn nicht in Frage. Er reagiert erst, als die Interessen der USA tangiert werden: Am Checkpoint Charlie, dem Übergang für Ausländer, fordert die DDR-Volkspolizei am 22. Oktober den US-Gesandten Allan Lightner auf, seinen Ausweis zu zeigen; der weigert sich und darf nicht einreisen. Am 25. Oktober, 8.30 Uhr, gehen amerikanische Tanks hier in Stellung, am Tag darauf gegenüber sowjetische Panzer. 16 Stunden lang hält die Welt den Atem an. Die Sowjets geben nach - zum Unmut der DDR.
Anfangs ist die Abriegelung lückenhaft, ermöglicht noch das Flüchten. Am 15. August gelangt der 19-jährige Volksarmist Conrad Schumann mit einem kessen Sprung über den Stacheldraht in den Westen; das Foto davon wird zur Ikone.
Um die Welt geht auch die Szene vom 24. September: Die 77-jährige Frieda Schulze will aus dem Fenster des Hauses Bernauer Straße 25, das im Osten liegt, auf die Straße springen, die schon Westen ist. DDR-Uniformierte halten sie an den Armen, West-Berliner ziehen an den Beinen - sie fällt in ein Sprungtuch der West-Berliner Feuerwehr. Danach werden die 2000 Bewohner der Häuser direkt an der Grenze aus ihren Wohnungen vertrieben, Eingänge und Fenster zugemauert.
Ohnehin wird die Grenze immer undurchlässiger. Bereits am 18. August 1961 werden die Stacheldrähte durch Hohlblocksteine ersetzt, 1976 diese wiederum durch Betonsegmente, 3,60 Meter hoch und 1,20 Meter breit. 45 000 davon werden verbaut. Denn die Mauer teilt nicht nur Berlin, sondern trennt auch den Westteil der Stadt vom Umland ab. Dennoch gelingt mehr als 5000 Menschen die Flucht - vor allem durch Tunnel; noch 2017 wird einer in der Bernauer Straße entdeckt.
Die Flucht direkt über die Mauer ist lebensgefährlich. Bereits im August 1961 beschließt das SED-Politbüro, dass jeder Flüchtling „durch Anwendung der Waffe zur Ordnung gerufen wird.“ „Wer unsere Grenze nicht respektiert, der bekommt die Kugel zu spüren“, ergänzt 1966 Armee-Chef Heinz Hoffmann. Noch 1974 bekräftigt Erich Honecker: „Bei Grenzdurchbruchsversuchen muss von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden.“
Das erste Opfer dieser Politik ist der 24-jährige Schneider Günter Litfin. In der Nähe des Bahnhofs Friedrichstraße springt er am 24. August 1961 ins Hafenbecken. Schüsse fallen. Bald treibt er leblos im Wasser. Den spektakulärsten Fall markiert das Schicksal von Peter Fechter. Als der 18-Jährige am 17. August 1962 den Sperrzaun überklettert, ergießt sich ein Kugelhagel - insgesamt 35 Schüsse. Schwer verletzt bleibt er auf der Ostseite der Mauer liegen. DDR-Grenzer wollen ihm nicht helfen, West-Berliner kommen nicht an ihn heran. Eine Stunde lang muss die Menschenmenge, die sich auf der Westseite bildet, seine Schmerzensschreie hilflos anhören, bis sie nach einer Stunde erlöschen. Er verblutet. Erst danach wird sein Leichnam von einem DDR-Grenzer weggetragen.
Selbst Kinder werden Opfer. 1975 fällt der fünfjährige Cetin beim Spielen am Ufer der Spree ins Wasser. Die West-Berliner Rettungsdienst ist schnell vor Ort, darf, kann jedoch nichts tun, da die Spree zum Ostsektor gehört. Machtlos muss er zusehen, wie der kleine Junge ertrinkt.
Letztes Opfer des Schießbefehls ist neun Monate vor dem Fall der Mauer Chris Gueffroy; am 5. Februar 1989 wird der 20-Jährige erschossen; die vier Todesschützen erhalten eine Belobigung sowie 150 DDR-Mark als Gratifikation. International gibt es Entrüstung. Am 3. April befiehlt Honecker, „die Schusswaffe zur Verhinderung von Grenzdurchbrüchen“ nicht länger anzuwenden.
Honecker: „Noch in 100 Jahren“
145 Mauertote sind belegt, laut Historikern sind es mit Sicherheit mehr. Denn die DDR versucht, jeden Zwischenfall zu vertuschen. Dennoch bleibt die Mauer für die DDR in der Weltöffentlichkeit eine Achillesferse, die der Westen unablässig thematisiert. Als US-Präsident Ronald Reagan 1987 vor dem Brandenburger Tor spricht, fordert er: „Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder!“ Doch Honecker weiß: ohne Mauer keine DDR. Am 19. Januar 1989 erklärt er: „Sie wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben.“ Er irrt sich. Im Herbst 1989 spült die Geschichte zunächst ihn hinweg und dann die Mauer - durch einen Versprecher auf einer Pressekonferenz, der tausend Mal beschrieben ist. Was dann am 9. November geschieht, etwa am Übergang Bornholmer Straße, das illustriert wunderbar der gleichnamige Film mit Charly Hübner in der Rolle jenes Kommandanten, der um 22.30 Uhr die Schlagbäume öffnet.
In nur einem Jahr abgerissen
Am Tag danach ist Willy Brandt vor Ort, sagt seinen legendären Satz: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Am 12. November kommt Bundespräsident Richard von Weizsäcker auf den zerschnittenen Potsdamer Platz. Ein DDR-Offizier tritt auf ihn zu und salutiert: „Herr Bundespräsident, ich melde: keine besonderen Vorkommnisse.“
Am 13. Juni 1990 beginnt der Abriss der Mauer, bereits am 30. November ist sie nahezu vollkommen verschwunden. Inzwischen ist sie länger weg, als sie gestanden hat.
Gedenkplätze und Überreste der Mauer
Gedenken an die Maueropfer: An der Südseite des Reichstages, am Tiergarten und am Spreeufer erinnern große weiße Kreuze an die mindestens 145 Todesopfer der Mauer.
Offizielle Gedenkstätte: In der Bernauer Straße 110. Dokumentationszentrum mit einem 220 Meter langen Originalabschnitt der Mauer. Infos: berliner-mauer-gedenkstaette.de.
Mauermuseum: Am früheren Grenzübergang Checkpoint Charlie, Friedrichstraße 43-45, gegründet 1963, privat getragen, umfangreiche Darstellung mit Fotos, Dokumenten und Gegenständen, mit denen DDR-Bürgern einst die Flucht gelang – so etwa der Korb eines Heißluftballons oder ein Mini-Boot zum Überqueren der Ostsee, www.mauermuseum.de
Wachhäuschen: 2001 wurde das 1990 entfernte, legendäre Gebäude samt Sandsack-Schutzwall nachgebaut. Fortan standen hier Statisten, die sich in sowjetischen und amerikanischen Uniformen mit Touristen fotografieren ließen. Dieser Rummel ist seit kurzem beendet; immerhin starben hier einst Menschen.
East Side Galery: 1,3 Kilometer langer Abschnitt der Mauer zwischen Schilling- und Oberbaumbrücke, von Künstlern bemalt. Hier befindet sich auch das berühmte Bild von Dmitri Vrubel vom Bruderkuss zwischen
Sowjet-Führer Leonid Breschnew und SED-Chef Erich Honecker.
Die strafrechtliche Aufarbeitung bleibt unbefriedigend. Etwa die Hälfte der angeklagten Todesschützen wird freigesprochen, die übrigen werden verurteilt, mit wenigen Ausnahmen zu Bewährungsstrafen. Von den vier Angeklagten im Fall Chris Gueffroy etwa wird einer zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, die anderen werden freigesprochen; sie hätten, so das Gericht, nur „am Ende der Befehlshierarchie“ gestanden.
Ganz oben stand die SED. So werden auch Mitglieder ihres Politbüros angeklagt. Doch Honecker entzieht sich der Strafe durch Flucht, Nachfolger Egon Krenz sitzt vier Jahre ab, viele seiner betagten Genossen werden aus humanitären Gründen vorzeitig entlassen. Die Nach-Nachfolgepartei der SED, die Linke, ist heute Teil der Regierung von Berlin.
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