Mannheim. Am Ende dieses Vormittags in der Mannheimer Neckarvorlandstraße dominiert ein Lächeln die Lippen des Streetart-Künstlers Nychos. All die konzentrierte Anspannung der vergangenen Tage – sie scheint wie fortgeblasen in der Euphorie der Verbindung, die er hier ersonnen hat. Der 38-Jährige, der wahlweise in Wien oder Los Angeles lebt, hat im Jungbusch das 32. Mural des mittlerweile national bekannten Projekts Stadt.Wand.Kunst geschaffen – und mit ihm doch so viel mehr als ein weiteres Stück bunte Fläche inmitten industrieller Bauten.
Stadt.Wand.Kunst und Nychos
- Das Projekt Stadt.Wand.Kunst der Alten Feuerwache existiert seit 2013 und lädt lokal bis international renommierte Streetart-Künstler zur Gestaltung des Mannheimer Raumes ein.
- Seitdem sind mehr als 30 Motive entstanden.
- Das 32. Motiv ist in der Neckarvorlandstraße 17-19 zu finden und stammt vom Österreicher Nychos. Der 38-Jährige ist dafür bekannt, in seinen Bildern Körper und Organe zu sezieren und dabei die Elemente von Comic und Anatomie miteinander zu verzahnen.
- Um den Fortbestand sicherzustellen, sucht die Feuerwache Finanzgeber unter www.stadt-wand-kunst.de/spenden.
Im Interview mit dieser Zeitung hatte der gebürtige Steirer offenbart, es sei die Angst, die es in den Blick zu nehmen gelte, um sie gleichsam zu besiegen und den Mut zu finden, unerschrocken zu leben. Es ist ein Prozess, der sich bei Nychos durch die ganze Biografie zieht und hier auch in einer vielleicht entscheidenden Phase sichtbar wird. Denn Jahre, nachdem der Urban Artist von Lemmy Kilmister bis Tweety, von Mona Lisa bis hin zu einem gigantischen Eisbären die Dimensionen der anatomischen Zerlegung bis hin zur Schichtung der Organe in bildlichen Schmerz verwandelte, wirkt das neue Mannheimer Werk wie befreit.
Vorbei scheinen die Zeiten, in denen Alkohol, Leid und Depression Sinne und Motive des international längst hoch gefeierten Künstlers bestimmten. Stattdessen bewundert das Auge auf zwölf Metern Höhe und sechs Metern Breite die wortwörtliche Verschmelzung eines meditierenden Mannes mit einem Wolf, der im Schimmer des Blutmondes zu einem Anrufer des schwarzen Himmels geworden ist. In Knochen und Venen fest miteinander verbunden, scheinen sich die Grenzen zwischen Mann und Tier, Geist und Seele, Umwelt und Innenleben aufgehoben zu haben.
In Schwarz grundiert
Im Gespräch hatte Nychos diese Annäherung als Prozess der „Reinigung“ beschrieben – doch inmitten des Industriegebiets und jenseits des Hafens waren dies auch für den Routinier, der bereits in Spanien und Italien, Singapur und den ganzen USA gesprüht hat, intensive vier Tage, die nicht ohne Überraschung daherkamen. Zum einen, weil auf dem Parkplatz vis à vis der Hauswand just die Mannheimer Schokinag ihre Dependance hat. Was eine sensible Nase noch auf Kilometern Entfernung als deutlich wahrnehmbaren Schokoladengeruch vernimmt – bei schwüler Sommerhitze ist das ein wahres Geruchsdampfbad.
Doch auch sonst waren die Voraussetzungen für Nychos und seinen Assistenten David Leitner denkbar herausfordernd. Noch bevor eine einzige Linie gezeichnet werden konnte, musste die gesamte Hauswand in schwarzer Farbe grundiert werden. „Das schaffen selbst Profimaler normalerweise in drei bis vier Tagen“, wie der Chef der Alten Feuerwache, Sören Gerhold, im „MM“-Gespräch klarmacht, um vollkommen fasziniert hinzuzufügen: „Und die Jungs bereiten hier in zwei Stunden die Fläche vor, das ist der helle Wahnsinn!“
Auf diese Art und Weise darf man fast jeden Entwicklungsschritt, jede Transformation mit schier ungläubigem Staunen zur Kenntnis nehmen. Denn wo nach einem Tag ein knöcherner Wolfskopf und sein menschliches Pendant in die leere Finsternis blicken, erstreckt sich nur Stunden später schon ein wahres Firmament. „Diese Striche, diese Formen, diese Präzision, das ist wirklich einzigartig“, wie Gerhold klarstellt – und dabei aus der Erfahrung eines Kulturmachers spricht, der unlängst mehr als 30 Murals bei Stadt.Wand.Kunst beäugen durfte. Doch auch die neugierigen Blicke der Passanten geben ihm recht. Obwohl die Straße für gewöhnlich nicht für ihren Publikumsverkehr bekannt ist, kommen immer wieder Fußgänger vorbei, die stehenbleiben, ihr Telefon zücken und eine Erinnerung in Fotos bannen, die ihnen noch lange im Gedächtnis bleiben wird.
Auch für Nychos – das spürt man an diesem Vormittag – ist dies keine Nummer im Reigen eines Oeuvres, das schon viel Ungewöhnliches feilzubieten hatte. Nein, hier ist jedes Wort geprägt von Stolz, von Leichtigkeit, von Heilung. Ganz am Ende des „MM“-Interviews hatte Nychos betont, wie entscheidend es sei, sich selbst zurückzugewinnen, wenn die Angst erst überwunden sei. Es spricht vieles dafür, dass dieses Werk für ihn als Akt der Erlösung gelten darf – und ganz Mannheim darf dabei zusehen.
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