Zeitreise

Erfurt gilt seit über Tausend Jahren als internationale Gartenbaumetropole

Erfurt trägt auch den Titel „Blumenstadt“. Seit über tausend Jahren gilt die thüringische Landeshauptstadt als die internationale Gartenbaumetropole. Dies zeigt das Deutsche Gartenbaumuseum. Es ist einzigartig in Deutschland.

Von 
Peter W. Ragge
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Der badische Großherzog Friedrich I. lächelt einen plötzlich an. Mitten in Erfurt erwartet man das nicht. Aber hinter Glas liegt da eine Medaille mit seinem Antlitz, 1907 vergeben bei der Internationalen Kunst- und Großen Gartenbauausstellung anlässlich des Mannheimer Stadtjubiläums an die Firma N. L. Chrestensen. Nun ist sie im Erfurter Gartenbaumuseum zu sehen – neben der Columbus-Medaille der Weltausstellung Chicago 1893 für neuartige Züchtungen und zahlreichen weiteren Auszeichnungen.

„Wir haben da viele davon, wir waren überall erfolgreich, in Europa und den USA“, sagt Lars Niels Chrestensen, der das Erfurter Unternehmen für Samen- und Pflanzenzucht in fünfter Generation führt. Seine Firmengeschichte ist eng mit der seiner gesamten Branche in Thüringen verknüpft – und er daher der beste Gesprächspartner bei einem Rundgang durch das Deutsche Gartenbaumuseum. Auf drei Stockwerken präsentiert es eine eigens zur Bundesgartenschau Erfurt 2021 aufwendig entwickelte, informative wie interaktive Dauerausstellung sowie eine Zeitreise durch die Gartenbautradition der Landschaft, die als das grüne Herz Deutschlands gilt. Sie soll auch nach der Bundesgartenschau Bestand haben.

Preußische Festung

Beheimatet ist sie in der Cyriaksburg, seit 1480 Bestandteil der Befestigungsanlagen und 1825 bis 1829 zu einer preußischen Festung ausgebaut. Schon seit 1961 dienen die unterirdischen Festungsgänge, Kanonenhöfe und Unterkünfte der Soldaten als Museum. Ein großes, steinernes Mühlrad, früher in dem Ort Pferdingsleben (Landkreis Gotha) tatsächlich im Einsatz, steht davor als Symbol dafür, was über Jahrhunderte den Reichtum Erfurts ausgemacht hat: Färberwaid.

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Im Mittelalter ist Erfurt, von Missionar Bonifatius als Erphesfurt 742 erstmals urkundlich erwähnt, eine Metropole im damaligen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation – fast so wichtig wie Köln oder Lübeck. Davon kündet noch heute eine sehr gut erhaltene Altstadt. Das Sagen hat hier bis 1802 der Erzbischof und Kurfürst von Mainz. Eine Urkunde von Adalbert von Mainz von 1133, der „hortulani“ erwähnt (vom „Hortus“ als lateinisches Wort für Garten), wird heute als älteste nachgewiesene Nennung des Berufsstandes der Gärtner betrachtet.

Pflanze macht „stinkreich“

Ihr Geld verdienen sie mit der Pflanze, welche die im Mittelalter sehr wichtige blaue Farbe erst möglich macht: die Isatis Tinctoria, eben Färberwaid. „Kilometerweit haben bei uns alle Felder gelb geblüht“, sagt Chrestensen, denn die Pflanze aus der Familie der Kreuzblütengewächse entwickelt im Frühsommer gelbe Blüten, die vom Aussehen ihrer Felder dem Raps ähneln. Erst werden die geernteten, zuvor auf Wiesen zum Trocknen ausgebreiteten Pflanzen in Mühlen zu Waidmus zerkleinert, zu handlichen Ballen geformt und so von den Bauern verkauft.

Die Waidhändler zerkleinern sie, bringen die Masse mit Hilfe von Urin zum Gären, trocknen und zerkleinern wieder. Aus dem so entstehenden Pulver lässt sich blauer Farbstoff gewinnen. Der macht Erzeuger und besonders Händler „stinkreich“, wie ein geflügeltes Wort lautet, das auf die geruchsintensive Behandlung der trockenen Pflanze mit Urin zurückzuführen ist.

Gartenbaumuseum und Bundesgartenschau

Anschrift: Stiftung Deutsches Gartenbaumuseum, Cyriaksburg, Gothaer Straße 50, 99094 Erfurt, Telefon: 0361/22 399-0. www.gartenbaumuseum.de

Öffnungszeiten: bis 10. Oktober als Teil der Bundesgartenschau Erfurt im egapark Montag bis Sonntag 9 - bis 18.30 Uhr, letzter Einlass: 17 Uhr, danach neue Öffnungszeiten und geänderte Eintrittspreise, die noch nicht feststehen.

Bundesgartenschau: Die Bundesgartenschau Erfurt findet noch bis 10. Oktober auf zwei Flächen – Petersberg (sieben Hektar) und egapark (36 Hektar) – statt, täglich von 9 bis 19 Uhr.

Preise: Erwachsene Tageskarte 25 Euro, 2-Tages-Karte 35 Euro, Feierabendkarte (ab 18.30 Uhr) 7,50 Euro, junge Erwachsene (16 bis unter 25 Jahre) und ermäßigter Eintritt Tageskarte 12,50 Euro, 2-Tages-Karte 17,50 Euro, Feierabendkarte 5 Euro. Schüler (8 bis unter 16 Jahre) Tageskarte 2,50 Euro. Kinder unter acht Jahre Eintritt frei. Der Kauf einer Tages- oder 2-Tageskarte beinhaltet ein Tagesticket des Öffentlichen Nahverkehrs Erfurt.

Verbindung: Die beiden Standorte Petersberg und egapark sind mit der Straßenbahnlinie 2 verbunden. Die Fahrtzeit beträgt sieben Minuten, und der Fußweg von einem zum anderen Standort 20 bis 30 Minuten.

Anreise: Bis Erfurt Hauptbahnhof, weiter mit der Straßenbahn Linie 2 oder 4, Haltestelle Gothaer Platz/Gartenbaumuseum. Mit dem Auto auf der A 71 Richtung Erfurt bis Ausfahrt Erfurt-Bindersleben, weiter Richtung Messe und dem Buga-Parkleitsystem folgen.

Zahlen: Das Gartenbaumuseum hat 1640 Quadratmeter Ausstellungsfläche auf drei Etagen, 4000 Exponate zum Gartenbau und zur Gartenkunst, 4000 Pflanzen- und Samenkataloge, 9500 Bücher, Broschüren, Zeitschriftenbände in der Bibliothek, darunter 700 Titel aus dem 17. bis 19. Jahrhundert, sowie elf Mitarbeiter. Träger ist eine Stiftung von Stadt, Land und Zentralverband Gartenbau. pwr

Vom 13. bis ins 16. Jahrhundert ist Erfurt – neben dem französischen Toulouse – das wichtigste europäische Waid-Anbaugebiet, die erste Anpflanzung für 1248 belegt und die Stadt Schauplatz vom größten Waid-Markt Mitteleuropas. Der Export der Färberpflanze und die geografisch günstige Lage an den wichtigsten Fernhandelsrouten sorgt für einen Aufschwung des Handels. Neben Waid werden zudem auf den fruchtbaren Böden viel Obst, Gemüse und Kräuter angebaut und so viele kurmainzische Einrichtungen sowie weitere Abnehmer versorgt. Der spätere Reformator Martin Luther, zunächst Student und Lehrer der Universität sowie dann Mönch im Erfurter Augustinerkloster, bezeichnet die Erfurter daher als „des Heiligen Römischen Reichs Gärtner“.

Importe machen ihnen aber bald zu schaffen. Der Handel mit der auch „blaues Gold“ genannten Waidpflanze wird das, was man heute ein Opfer der Globalisierung nennen würde. Der billig importierte Indigostrauch macht dem Färberwaid Konkurrenz, ab Ende des 19. Jahrhunderts zudem die chemische Industrie, die Indigo synthetisch erzeugt. Zwar haben die Erfurter Gärtner ohnehin nie auf reine Monokulturen gesetzt, sondern sind früh auch für Hülsenfrüchte („Puffbohnen“) und Wein bekannt, doch nun müssen sie stark auf den Anbau anderer Pflanzen ausweichen. Dass Waid ferner einen guten Ruf als Arzneipflanze hat, bei Milzleiden, Wunden und Schlangenbissen angewendet und ihm bis heute entzündungshemmende Wirkung bescheinigt wird, kann den Anbau im großen Stil ebenso nicht mehr retten.

Standardwerk bis heute

Motor dieses Wandels ist ein Mann, dem die Erfurter – obwohl weder Feldherr noch Fürst – 1867 ein steinernes Denkmal gesetzt haben: Christian Reichart. „Der berühmteste deutsche Gärtner, obwohl reiner Autodidakt“, beschreibt Lars Niels Chrestensen den 1685 geborenen Sohn eines Landwirts und Gärtners. Doch Reichart zieht es zunächst nicht aufs Feld und nicht auf Beete, sondern er wird Jurist, ist nebenbei Organist in der Kirche, dient in der Bürgerwehr, wird zum Stadtrat und Zuständigen für den Brandschutz berufen, steigt in der Verwaltung immer weiter auf.

Egal in welcher Funktion – ihm ist die Verbindung von Theorie und Praxis wichtig. Als er wegen eines Schlaganfalls seines Stiefvaters die Güter der Familie übernehmen muss, bringt er sich selbst alles bei, was man im Gartenbau wissen muss – und schreibt es auf. Seine Schriften, so sagt Chrestensen, „sind heute noch gültig und wegweisend – ein Standardwerk der Branche“, verweist er auf den sechsbändigen „Land- und Gartenschatz“. So sei auf Reichart „der ganze moderne Erwerbsgartenbau zurückzuführen“, betont Chrestensen, denn er habe viele effektive Anbaumethoden, dazu Ideen zur Saatguterzeugung ebenso wie eine Vielzahl von Gartengeräten für eine bessere Arbeitsproduktivität entwickelt.

Besonders setzt Reichart auf Gemüseanbau. „Er hat die ganz, ganz große Tradition der Erfurter Brunnenkresse begründet“, so Chrestensen. Dazu kommt der Erfurter Blumenkohl, Wurzel- und Zwiebelgemüsearten, Obstanbau sowie die Züchtung von Samen und Gehölzen. So entstehen die älteste Kakteenzucht Europas und immer größere Betriebe, wodurch Erfurt dank erfolgreicher Züchtungen und Saatgut schon im 19. Jahrhundert den Beinamen „Blumenstadt“ bekommt.

Alles verstaatlicht

Dieser Ruf dringt bis nach Dänemark, wo der Gärtnergehilfe Niels Lund Chrestensen sich 1864 zur Auswanderung nach Thüringen entschließt und 1867 – mit gerade 27 Jahren – den Betrieb gründet. Ziergräser, Stiefmütterchen, Vergissmeinnicht und Zimmerschmuck aus getrockneten exotischen Pflanzen werden seine Spezialität. Bald kommen Samen dazu, die über Deutschland hinaus exportiert werden. Und 1908 ist Chrestensen Mitgründer der „Blumenspenden-Vermittlungs-Vereinigung“ (B. V. V.) – heute bekannt als Fleurop.

Zwei Weltkriege übersteht das Unternehmen, aber nicht den Sozialismus. Einige Jahre kann sich die Firma noch mit staatlicher Beteiligung halten, aber 1972 folgt die Zerschlagung und komplette Verstaatlichung. Nun heißt es „Volkseigener Betrieb Erfurter Samen- und Pflanzenzucht“ und „Volkseigene Genossenschaft Saatzucht“. DDR-typische Schilder mit Schriftzügen wie „Hohe Qualität und beste Erfolge sind unsere Verpflichtung“ zur Motivation der Belegschaft sieht man heute noch im Museum, und exportiert wird seinerzeit nach einer alten Liste „in die sozialistischen Bruderländer und in die BRD“. 1990 ist Chrestensen aber eines der ersten Thüringer Unternehmen, das wieder privatisiert wird. Heute exportiert es Saatgut im großen Stil international, schickt aber auch an 250 000 Hobbygärtner jährlich Kataloge.

Chrestensen sieht seine Heimatstadt als „Keimzelle aller Bundesgartenschauen“, wie er stolz in der Gärtnersprache hervorhebt. Schon ab 1831 finden hier Gartenbau-Ausstellungen, 1865 die „Allgemeine deutsche Ausstellung von Produkten des Land- und Gartenbaus“ mit immerhin 379 in- und ausländischen Ausstellern statt. Weitere große grüne Ausstellungen 1876 – unter dem Protektorat von Kaiserin Augusta – sowie 1894 und 1902 folgen, ehe die Kriege das verhindern.

Anfassen erlaubt

Die DDR will daran dann anknüpfen. „Erfurt blüht“ lässt sie 1950 plakatieren. 1961 wählt die DDR-Führung Erfurt aus, ein dauerhaftes sozialistisches Gegenstück zu den Bundesgartenschauen zu bilden – die Internationale Gartenbauausstellung (iga), die dann hier regelmäßig stattfindet. Schauplatz ist der egapark („ega“ steht für Erfurter Gartenschau). Sein Schöpfer, der renommierte Gartenarchitekt Reinhold Lingner, will mit seiner Anlage die Überlegenheit des sozialistischen Gartenbaus dokumentieren. Der egapark bleibt auch nach Ende der DDR eine stets eintrittspflichtige Anlage, vergleichbar dem Luisenpark, und ist nun Herzstück der Bundesgartenschau 2021.

Die iga 1961 in der Zitadelle Cyriaksburg stellt zugleich die Geburtsstunde des Gartenbaumuseums dar. Zunächst zwischen 1995 und 2000 saniert und weiterentwickelt, hat es in diesem Jahr einen Quantensprung geschafft. Während die Gartenbau- und Gartenschaugeschichte im klassischen Stil mit Schrifttafeln und Exponaten dargestellt werden, heißt es dann: Zuhören, Staunen und Anfassen erlaubt, denn der Gartenbau sowie viele aktuelle Fragen von Plastikverpackungen beim Einkauf über genveränderte Pflanzen bis zum Klimawandel werden modern, gestalterisch höchst attraktiv und originell spielerisch unterhaltsam präsentiert.

Zimmer voller Äpfel

Da gibt es multimediale Überraschungen und Beiträge, durch die man – im Wortsinne – die Themen gut begreifen kann. Dazu zählt das pomologische Kabinett: ein ganzes Zimmer mit Apfelmodellen der verschiedensten Sorten. Welche Pflanze ist oben giftig und unten nahrhaft? Richtig, die Kartoffel. Über sie erfährt man Geschichte und Anbau ebenso wie von Radieschen, Karotten, dem „weißes Gold“ genannten Spargel sowie noch viel mehr Gemüse- und Obstsorten. Auch Säfte, Marmelade und Schokocremes sind Thema – es soll ja Jugendliche geben, die Obst nur in dieser Form kennen. . . Pflanzenpioniere oder Feldforscher – die Wegbereiter des Gartenbaus – erlebt man animiert in Aktion. Moderne Museumsdidaktik in einer preußischen Festung macht den Besuch besonders reizvoll.

Redaktion Chefreporter

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