Zeitreise durch Mannheim

Einst Privileg des Adels: Laufen und Schlendern wieder im Trend

Spaziergänge waren einst Privileg des Adels, dann des gehobenen Bürgertums. Schließlich gerieten sie völlig aus der Mode. Seit der Corona-Pandemie ist das Laufen und Schlendern aber wieder verstärkt im Trend – weil man es immer darf.

Von 
Peter W. Ragge
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Aquarell vom Schlosspark von J. P. Karg von 1819. © Landesmedienzentrum BW

Ausgehen – geht nicht. Lange waren ja alle Freizeitangebote geschlossen. Spaziergänge seien durch Corona „Medium des sozialen Miteinanders“ geworden, sagt Jens Kleinert von der Deutschen Sporthochschule Köln. Dabei waren sie das schon einmal, wie ein Blick in die Kulturgeschichte des Spaziergangs zeigt.

Lange läuft man nur, wenn man muss. Und man muss oft – die frühen Menschen ganz unmittelbar zur Nahrungssuche und zur Jagd, später aufs Feld oder zur Arbeit. Erst mit der Erfindung des Laufrads 1817 und des Autos 1886, beides in Mannheim, beginnen ja andere Fortbewegungsmittel ihren Siegeszug.

Eine Postkarte von 1914 vom Friedrichspark aus der Sammlung Albrecht. © Andrea Rachele/SSG und Marchivum (2)

„Moderates, zweckfreies Gehen“ kommt an der Wende vom 16. auf das 17. Jahrhundert auf, sagt Hanspeter Rings, lange wissenschaftlicher Stadthistoriker am Marchivum. Er hat sich mit dem Spaziergang aus stadtgeschichtlicher Sicht befasst. Danach haben die Menschen zunächst gar keine Zeit und zudem trauen sie sich lange gar nicht, einfach so durch die Natur zu schlendern. Das endet erst, als „immer größere Lebensareale befriedet werden“, sprich sich keine Raubritter und Raubtiere mehr außerhalb der streng geschlossenen Stadtmauern tummeln. „Mit der Zivilisierung wandelt sich die Natur langsam vom Schreckensort zum Idyll“, so Rings.

Sehnsucht von Liselotte

Über Spaziergänge im Mannheim der frühen Neuzeit, rund um die Stadtgründung 1607, wisse man freilich wenig bis gar nichts. Der erste Nachweis stammt von Liselotte von der Pfalz, eines von 16 Kindern des 1649 bis 1680 in Heidelberg regierenden Kurfürsten Karl I. Ludwig. Er hat seine Tochter zwangsverheiratet an den französischen Hof.

1722, kurz vor ihrem Tod, schreibt sie in einem ihrer vielen Briefe aus Paris in die Heimat und bedankt sich für die Zusendung einer Bilderlandkarte. Sie zeige Orte „worin ich schon viel spaziert habe; bin schon von Heidelberg bis nach Frankfurt, von Mannheim nach Frankenthal und von da nach Worms... Mein Gott, wie macht einen dieses an die alten guten Zeiten gedenken, die leider vorbei sind.“

Blick in Frauenzimmer

Zu jener Zeit ist gerade das Mannheimer Schloss im Bau. Zum Rhein hin erhält es „einen vergleichsweise kleinen geometrischen, französischen Ziergarten für die Lustwandelbarkeit der höfischen Gesellschaft“, so Rings. Fürs Volk dagegen bietet sich der mit Bäumen bepflanzte, um die Stadt führende Festungswall an. „Den Windungen der Bastionen folgend, musste man 5300 Schritte zurücklegen, um einmal die Festung zu umrunden“, hat Rings in alten Aufzeichnungen gefunden.

Dass die Menschen dort gerne flaniert sind, weiß man noch aus einer anderen Begebenheit. In N 5 befindet sich ein Entbindungshaus für ledige Frauen. Damals bezeichnet man sie als „Opfer galanter Ausschweifungen“, die vor der Niederkunft eine Haftstrafe von sechs Wochen bei Wasser und Brot abzusitzen haben. Weil die Spaziergänger vom Wall aus in die Zimmer starren, müssen die – so alte Bauakten – zugemauert werden.

Hierarchien spielen in der Gesellschaft noch eine enorm große Rolle. „Adel und das gehobene Bürgertum erging sich lustwandelnd im Müßiggang“, sagt Rings, während der überwiegende Teil der Bevölkerung Arbeitsgänge zu machen hatte. „Die einen lustwandelten gemächlichen Schrittes, die anderen eilten ihren Tagesgeschäften nach“, so der Stadthistoriker: „Das Privileg, Zeit zu haben, war dem Adel vorbehalten“.

Schön belegen lässt sich das mit historischen Stadtansichten oder Stichen. Hohe Herrschaften sieht man da stets – ganz im Wortsinne – gut betucht, Unterschichten sind Randfiguren oder haben feste Funktionen zu erfüllen. Ein Beispiel ist der Kraxenträger auf einem Stich von 1782 von den Planken, also ein Mann mit einem riesigen Flechtkorb auf dem Rücken, der daraus Waren verkauft oder sie darin transportiert.

Herren von Stand tragen Hüte – erst den Zweispitz, später Zylinder. Wer einem Herren von höherem Stand begegnet, hat den Hut zu ziehen. Laut Rings geht das mutmaßlich auf das alte Lehensrecht zurück, als der Lehensmann wehrlos vor den Lehensherrn zu treten hatte, mit abgelegter Rüstung und abgesetztem Helm. Das Händeschütteln als Begrüßungsritual habe sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt – bis es ab 2020 wegen der Corona-Pandemie verpönt ist.

Stich vom Mühlauschlösschen von 1820. © Marchivum

Lange ein wichtiges Statussymbol bei Spaziergängen des Adels stellt der Degen dar, „auch wenn ihn die Herren weder benutzen mussten noch zu benutzen wussten“, wie Rings süffisant anmerkt. Das Gewicht habe aber zu Haltungsschäden geführt, ebenso wie viele Frauen lange unter Korsettkleidern leiden.

Indes – zunächst gehen nur Männer spazieren, „Frauen sind bisweilen nur Staffage“, beschreibt der Stadthistoriker das damalige Frauenbild. Gänge weiblicher Dienstboten ausgenommen, schickt es sich lange einfach nicht als Frau, alleine auf der Straße gesehen zu werden.

Ein „Heiratsmarktplatz“

Andererseits sei die Promenade im 18. und vor allem im frühen 19. Jahrhundert ein „geschätzter Heiratsmarktplatz“ gewesen. „Es bestand ja sonst kaum Gelegenheit zur Annäherung von Mitgliedern der gut betuchten Geschlechter“, sagt Rings, „außer auf Bällen, in der Kirche und eben beim Spaziergang“. Der Stadthistoriker vermutet sogar, dass die lange unter Schülern übliche Umschreibung vom „Miteinandergehen“ für erste Jugendlieben noch ein Ausfluss jener Epoche ist.

Das Wort „Spazierengehen“ indes gilt noch im frühen 19. Jahrhundert als „erklärungswürdiger Begriff“ und wird mit „auf- und abgehen ohne Ziel“ umschrieben, wie Rings in einem alten Lexikon in den Beständen des Marchivum gefunden hat. Gebraucht wird das Wort zwar schon früher, verfasst doch der Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau bereits 1782 das Essay „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“.

Aber das zu tun, gehört sich eher nicht. Carl Theodor, von Mannheim nach München umgezogener Kurfürst, gönnt es zwar seinen Untertanen und verkündet 1789, den Englischen Garten als Volkspark anzulegen. „Hier will das Volk gesehen, gefallen und bewundert werden“, sagt dazu der vom Schwetzinger Schlossgarten bekannte Friedrich Ludwig von Sckell, dem Carl Theodor die Planung überträgt. Aber die Münchner, die den Kurfürsten nicht lieben, schimpfen über die „Förderung des öffentlichen Müßigganges“.

Erst in der Biedermeierzeit, der Epoche vom Wiener Kongress 1815 bis zum Beginn der bürgerlichen Revolution 1848, mit ihrem Rückzug in Familienidylle und Naturverbundenheit wird der beschauliche Sonntagsspaziergang richtig Mode. Klassischerweise führt er zum Flanieren auf die Promenade der Stadt – zum Sehen und Gesehenwerden – oder durch Wiesen und Wälder.

Schlossgarten entsteht

In Mannheim bilden die Jahre 1802/03 die Zäsur – die Kurpfalz ist Geschichte, die Stadt nun Teil vom Großherzogtum Baden. Die Schleifung der Festungsmauern schafft die Chance für eine räumliche Ausdehnung der Stadt. Die Gartenanlagen der Schwetzinger Chaussee, heute Schwetzinger Straße, werden nicht nur bei Spaziergängern beliebt, sondern bilden mit einer Mühle und einer Ziegelfabrik auch Keimzellen der späteren Bebauung.

Zum wichtigsten Naherholungsgebiet – auch wenn dieser Begriff noch unbekannt ist – jener Zeit entwickelt sich der Schlossgarten. Napoléons Adoptivtochter Stéphanie de Beauharnais, ab 1811 Großherzogin und nach dem Tod ihres Mannes 1819 bis 1860 als Witwe im Schloss residierend, lässt Gartenbaudirektor Johann Michael Zeyher zwischen Schloss und dem „Schnickenloch“ einen Landschaftsgarten im englischen Stil anlegen – mit schönen, verschlungenen Wegen, Gehölzgruppen und kleinen Alleen. Das Areal ist für alle Bürger zugänglich, nur ein kleines „Prinzessgärtchen“ beim Schloss der Großherzogin und ihren Töchtern vorbehalten.

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Mannheims großer Stadthistoriker Friedrich Walter (1870-1956) lokalisiert hier eine „Seufzerallee“, weil die Annäherung der Geschlechter durch Blickkontakt beim Spaziergang nicht immer gelungen sein soll. Rings hat in alten Unterlagen gefunden, dass um 1860 im Schlossgarten Molke und Mineralwasser dargeboten wird, „damit hatte er den Charakter wie ein Kurpark“. Auch in der heraufziehenden bürgerlichen Ära habe der Spaziergang niemals Eile vertragen, denn das sei „ein proletarischer Zug“, so Rings über die damalige Auffassung. Von der Pariser Angewohnheit jener Zeit, beim Promenieren eine Schildkröte mit sich zu führen, damit sie das Gehtempo vorgebe, sei man in Mannheim aber weit entfernt gewesen.

Vom Schlossgarten aus weiter flanieren bis zum Waldpark kann man ab 1832. Da lässt die Großherzogin-Witwe eine heute nach ihr benannte Promenade anlegen, wo zudem die Replik einer 1907 geschaffenen Marmorstatue an sie erinnert. Das Original steht längst im Schloss selbst. Das Idyll zwischen Barockbau und Rhein währt aber nicht lange – ab 1865 werden Eisenbahn- und Straßen Richtung Ludwigshafen durch den Schlossgarten geführt, das Schloss vom Rhein getrennt.

Schillers Pappel

Ein weiteres beliebtes Mannheimer Ausflugsziel im 19. Jahrhundert stellt der 1880 im Zuge der Pfalzgauausstellung entstehende Friedrichspark westlich der Sternwarte bis zum Parkring dar, mit dichtem Baumbestand, Blumenrabatten, Teich, großem Gartenrestaurant sowie Bühne für Freiluftkonzerte. Von dort ist es dann nicht mehr weit bis zum Mühlauschlösschen und der Mühlauinsel. Der einstöckige Rokokobau verfügt lange über, so Hanspeter Rings, eine „große, beliebte Außengastronomie“, bis er 1893 für eine Hafenerweiterung weichen muss.

Schon 1840 wird auf der – später für den Hafen genutzten – Mühlauinsel eine riesige Schwarzpappel abgebrochen, die Friedrich Schiller bei seinen Spaziergängen während der Mannheim-Aufenthalte zwischen 1782 und 1785 als seinen Lieblingsplatz bezeichnet. Kaum mehr vorstellbar ist heute, wo hier Industrie- und Hafenanlagen dominieren, dass westlich der Quadrate zwischen Neckar und Rhein ab 1817 eine prachtvolle Pappelallee verläuft, wo die Bürger gerne flanieren. Jetzt findet man da den Verbindungskanal.

Stadtpunkte und Rundwege

Stadtpunkte: Das Marchivum hat in der Innenstadt 112 Glastafeln und in den Vororten weitere 47 Tafeln der Stadtpunkte angebracht – an Gebäuden oder Sandsteinsäulen. Sie informieren in Text und Bild über historisch relevante Personen, Gebäude, Institutionen und Erfindungen. Jede Tafel ist einer oder mehreren Kategorien zugeordnet. Es gibt keinen festen Startpunkt oder starren Rundweg.

App „Mannheim Erleben“: Einen Überblick über Themen und Standorte verschafft die Smartphone-App „Mannheim Erleben“. Sie wurde vom Mannheimer Start-up-Unternehmen vmapit in Kooperation mit dem Marchivum und weiteren Partnern entwickelt und ist in App-Stores für alle Apple- und Android-Geräte kostenlos erhältlich. Neben einem Lageplan der Stadtpunkte stehen ein integrierter Audioguide sowie Texte in Englisch und Französisch zur Verfügung. Man kann sich so einen virtuellen Stadtrundgang zusammenstellen.

Vororte: In vielen Vororten gibt es Rundgänge, gestaltet von den örtlichen Heimatvereinen, mit Infotafeln an markanten Punkten, besonders ausführlich in Feudenheim, auf dem Lindenhof und in Neckarau.

Hafen: Im Industriehafen gibt es Mannheims ersten Rundweg zur Industriekultur mit knapp 30 Infotafeln, einen weiteren Rundweg im Handelshafen und zum Verbindungskanal einen Audiowalk mit Annette Lennartz. Ausführliche Informationen und Pläne im Internet unter www.rhein-neckar-industriekultur.de/unsere-routen. pwr

„Völlig in Vergessenheit geraten“, wie Rings bedauert, ist ein zeitweise bei Ausflüglern sehr weitläufiges Areal am nördlichen Neckarufer namens Neckarpark, angelegt Ende des 19. Jahrhunderts – aber nicht für lange Zeit. 1911 fällt die Entscheidung, dort ein neues Krankenhaus zu errichten. Aber es dauert bis 1913, ehe die Bauarbeiten beginnen.

Da hat sich aber auch längst ein weiteres Ausflugsziel etabliert, das bis heute enorm beliebt ist: der Luisenpark. 1889, mit der Fertigstellung des Wasserturms, bekommt das städtische Tiefbauamt den Auftrag, rund herum ein Wohngebiet zu entwerfen, die heutige Oststadt. Die für die Bewohner des Villenviertels südlich des Neckars in einer alten Neckarschleife angelegte Erholungsfläche, ermöglicht durch das 20 000 Goldmark umfassende Vermächtnis des Naturwissenschaftlers Carl Wilhelm Casimir Fuchs, benennen die Mannheimer 1896 nach Luise, der Ehefrau von Großherzog Friedrich I. und Tochter von Kaiser Wilhelm I., als „Luisenpark“. Den nutzt laut Rings im Zuge der Industrialisierung auch stark die eher proletarische Schicht, „die zunehmend Verhaltensmuster des Bürgertums wie den Sonntagsspaziergang imitierte“.

Redaktion Chefreporter

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