Zeitreise

Sie haben ihr Leben geopfert: Widerstand in Mannheim

Von 
Peter W. Ragge
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Das Gesicht wirkt zerfurcht, die Wangen eingefallen, der Mundwinkel zeigt nach unten. Ausgemergelt, gezeichnet von den Torturen der Haft, wird er dargestellt, körperlich geschwächt, aber seelisch enorm stark, der Blick starr und bestimmt. So hat Karlheinz Oswald den Bronzekopf von Alfred Delp geformt. 1995 geschaffen, steht er seit 2008 in der Jesuitenkirche rechts neben dem Altarraum, gut sichtbar vier Stufen erhöht. So wird an den berühmtesten Mannheimer Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, den Jesuitenpater Alfred Delp, erinnert.

Orte der Erinnerung

Jesuitenkirche: Die Kirche in A 4, 2 ist zwischen 9 und 19 Uhr immer geöffnet. Die Delp-Büste wurde zum 100. Geburtstag des Jesuitenpaters von der Alfred-Delp-Gesellschaft aufgestellt und von Roland Hartung, damals Vorsitzender der Alfred-Delp-Gesellschaft, sowie der Landesbank Baden-Württemberg finanziert.

Mahnmal: Auf einer Grünfläche vor dem Westflügel des Schlosses steht seit 2002 ein Mahnmal aus zwei Stahlstelen im Abstand von etwa einem halben Meter. Auf der vorderen Stele stehen die – abgekürzten – Namen der Opfer und in großen Buchstaben die Überschrift „Den Opfern der Justiz im Nationalsozialismus zum Gedenken“. Es gab hier 2482 Verfahren des NS-Sondergerichts Mannheim. 73 Menschen waren allein aufgrund seiner Urteile hingerichtet worden.

Stadtpunkte: Mehrere Plexiglastafeln der Stadtpunkte des Marchivum erinnern an Themen rund um den Widerstand, so vor dem Schloss-Westflügel an das Sondergericht, vor C 7 an den Geburtsort von Alfred Delp, vor S 3, 10 an das Arbeitersekretariat und die dort ansässige „Arbeiterzeitung“, für die Georg Lechleiter schrieb, sowie vor dem Friedensengel in E 6, der vom Bildhauer Gerhard Marcks (1889-1981) als Mahnmal für alle Toten der Jahre 1933 bis 1945 geschaffen wurde.

Lechleiterplatz: Grünanlage in der Schwetzingerstadt zwischen Schwetzinger Straße und Rheinhäuser Straße, seit 1988 mit Bronzedenkmal von Manfred Kieselbach.

Gedenktafeln: Eine Gedenkplatte für Georg Lechleiter gibt es seit 1972 an seinem ehemaligen Wohnhaus Alte Frankfurter Straße 30 (Waldhof). Für Jakob Faulhaber brachte 1990 sein Bruder Max eine Gedenktafel am früheren Wohnhaus Am Grünen Hag 6 (Gartenstadt) an. In den Lauerschen Gärten in M 6 erinnert eine Tafel an die dort Ende März 1945 erschossenen drei Mannheimer.

Straßennamen: An weitere Mitglieder der Widerstandsgruppe erinnern seit 1945 der Philipp-Brunnemer-Weg in der Gartenstadt, die Jakob-Faulhaber-Straße auf dem Waldhof und die Rudolf-Langendorf-Straße in Friedrichsfeld. 1984 wurde eine ganze Straßengruppe im Neubaugebiet Schönau-Nordost nach Mitgliedern der Lechleiter-Gruppe benannt, nämlich nach Jakob Baumann, Albert Fritz, Hans Heck, Anton Kurz, Rudolf Maus, Ludwig Neischwander, Bruno Rüffer, Josef Rutz, Albert Schmoll, Daniel Seizinger, Eugen Sigrist und Max Winterhalter. pwr

Oswald will mit der Bronzebüste, aufgestellt von der Alfred-Delp-Gesellschaft, den Jesuiten in jenem Moment des 11. Januar 1945 darstellen, als ihn Roland Freisler, der berüchtigte Präsident des Volksgerichtshofes, nicht nur zum Tod verurteilt, sondern verächtlich niederbrüllt. Das Foto von diesem Prozess dient dem Mainzer Bildhauer als Vorlage. „Sie Jämmerling, Sie pfäffisches Würstchen – und so was erdreistet sich, unserem geliebten Führer ans Leder zu wollen“, schimpft er rasend vor Wut. „Eine Ratte – austreten, zertreten sollte man so was!“, schreit er ihm entgegen, während Delp standhaft und gefasst bleibt, gestärkt durch den Glauben an Gott.

Primiz in Lampertheim

Zu diesem Glauben hat er früh gefunden. Im Luisenheim, dem Mannheimer Wöchnerinnenasyl in C 7,14, kommt er am 15. September 1907 zur Welt. Seine Eltern wohnen in Hüttenfeld und später in Lampertheim, dort wächst er auf – auf Betreiben der Großeltern evangelisch erzogen. Nach der Konfirmation entschiedet sich Alfred Delp aber 1921 selbst für die katholische Kirche.

1922 tritt er in das Bischöfliche Konvikt Dieburg ein, wo er bis zum Abitur 1926 bleibt. Dort prägt ihn der aus der Jugendbewegung kommende Verband Neudeutschland, dessen Gruppenführer er wird. So lernt er Jesuiten kennen, tritt am 22. April 1926 als Novize dem Orden bei. Er studiert Philosophie und Theologie, empfängt 1937 die Priesterweihe in München durch Kardinal Michael von Faulhaber. Seine Primiz feiert er in Lampertheim in St. Andreas. Dann arbeitet er in München für die Jesuiten, wird Mitarbeiter der Monatszeitschrift „Stimmen der Zeit“ in München und Pfarrer der St. Georgskirche München-Bogenhausen.

Mit gefesselten Händen

Die Nationalsozialisten verbieten das Blatt der Jesuiten. So stößt Delp auf die Widerstandsgruppe um Helmuth James Graf von Moltke, später „Kreisauer Kreis“ genannt. Die Gruppe überlegt, wie eine Neuordnung Deutschlands nach dem Krieg aussehen könnte. Delp propagiert die „Dritte Idee“ zwischen Kapitalismus und Marxismus und einen Staat, welcher die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Nach dem Attentat von Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg am 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler fliegt der „Kreisauer Kreis“ auf, die meisten Mitglieder werden von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) verhaftet, Delp am 28. Juli 1944, und nach Berlin-Tegel gebracht, wo man sie mit Isolationshaft, Folter und Hunger quält. Delp legt aber in der Haft am 8. Dezember 1944 die Profess, das ewige Ordensgelübde, ab. Mit gefesselten Händen sitzt er in seiner Zelle, schreibt dennoch seine Gedanken, Philosophisches und Spirituelles, nieder. Mit der Wäsche oder vom Gefängnispfarrer hinausgeschmuggelt, beweisen sie noch heute die große mentale Stärke und den tiefen Glauben Delps.

„Es sollen andere einmal besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind“, formuliert Delp, nachdem er am 11. Januar 1945 vom Volksgerichtshof wegen Hoch- und Landesverrat zum Tod verurteilt wird. Am 31. Januar karrt man ihn in das Hinrichtungsgefängnis Berlin-Plötzensee, am 2. Februar 1945 wird er dort am Galgen hingerichtet. „In einer halben Stunde weiß ich mehr als Sie,“ soll er zuvor dem Gefängnisseelsorger zugeflüstert haben. Ein Grab gibt es nicht. Die Nationalsozialisten haben die von ihnen getöteten Widerstandskämpfer verbrannt, die Asche auf Feldern verstreut. Die Deutsche Bischofskonferenz stuft ihn als Märtyrer ein. Von den Mannheimer Widerstandskämpfern ist Delp der bekannteste Name – sogar der amerikanische Präsident Joe Biden, von Jesuiten geprägt, hat den Mannheimer Pater schon in einer Rede zitiert. Aber es gibt noch sehr viel mehr Menschen, die sich in der Quadratestadt aktiv gegen das Unrechtsregime gewendet haben.

Eine 1984 im Auftrag der Stadt veröffentlichte Studie der Universitätsprofessoren Erich Matthias, der während der Forschungsarbeit stirbt, und Hermann Weber verzeichnet namentlich 1323 Personen, meist aufgrund von Akten der Verfolger. „Inzwischen ist das zahlenmäßig gewiss nach oben zu korrigieren“, sagt Ulrich Nieß, der Direktor des Marchivum. Die Mitarbeiter des Mannheimer Archivs, die gerade eine NS-Dokumentationsstätte aufbauen, sind derzeit dabei, alle politisch und aus religiösen Gründen Verfolgte in eine Datenbank aufzunehmen. „Aktuell sind 2406 Namen erfasst“, so Nieß, die näheren Prüfungen seien indes aufwendig und noch lange nicht abgeschlossen. Er geht aber davon aus, „dass die Gesamtzahl über den damals aufgeführten 1323 Personen liegt, aber vermutlich deutlich unter 2000“.

Laut Nieß ist aber die grundlegende Beobachtung von Matthias/Weber, dass sich die Hauptgruppe des politischen Widerstands in Mannheim aus der Arbeiterbewegung rekrutiert, „unbestreitbar und zentrales Charakteristikum der Quadratestadt“. Sozialdemokraten, Sozialisten, Kommunisten und diverse Gruppen dieses Spektrums bildeten „von der Intensität als auch von der Zahl der verfolgten Personen her den wesentlichen Teil des Widerstandes“, so die Professoren.

Ein Denkmal gesetzt wird aber nur der Lechleiter-Gruppe. Schon im Juli 1945 tauft die Stadt im Zuge der Entnazifizierung des Straßenbildes den „Platz des 30. Januar“ in der Schwetzingerstadt in „Georg-Lechleiter-Platz“. Seit 1988 steht an der Grünfläche eine mächtige, hohe Bronzeskulptur des Bildhauers Manfred Kieselbach, die sieben schmale Körper, darunter eine Frau, und dahinter weitere vier Köpfe zeigt. „Zum Gedenken an Georg Lechleiter und seine Mitkämpfer aus der Arbeiterbewegung, die wegen Widerstand gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime in den Jahren 1942 und 1943 zum Tode und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden“, lautet die Inschrift.

Georg Lechleiter, geboren 1884 in Appenweier/Baden, lebt seit 1919 in Mannheim. Der Schriftsetzer ist Mitbegründer der KPD in Mannheim, Redakteur bei der kommunistischen „Arbeiterzeitung“, Stadtrat und Landtagsabgeordneter seiner Partei. Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kommen, nehmen sie ihn – wie viele Kommunisten – in „Schutzhaft“. 1935 auf Probe, wie es heißt, entlassen, ist er erst arbeitslos und muss dann am Westwall schuften, ehe er ab 1939 wieder in seinem Beruf arbeiten darf. Als Familientreffen im Garten getarnt, halten die Kommunisten aber weiter Kontakt.

Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 bildet sich die Lechleiter-Gruppe, die als bedeutendste kommunistische Widerstandsgruppe im Südwesten gilt, zu der aber ebenso Sozialdemokraten zählen. Sie gibt vier Exemplare der Schrift „Der Vorbote“ heraus, verteilt meist über „Betriebszellen“ der KPD an Arbeiter. „Hitler hat den Krieg begonnen, Hitlers Sturz wird ihn beenden“ heißt es darin unter anderem. Lechleiter formuliert die Artikel, Käthe Seitz tippt sie auf Matrizen, Jakob Faulhaber übernimmt mit Schreibmaschine und Abziehapparat in Philipp Brunnemers Keller im Stadtteil Gartenstadt die Herstellung.

Ist es, weil Elektriker bei Arbeiten auf Exemplare des Blatts stoßen? Weil ein Mitglied der Gruppe zu vertrauensselig ist? Oder gibt es einen Verräter in den eigenen Reihen? Genau weiß es die Forschung nicht – jedenfalls zerschlägt die Gestapo die Gruppe, als sie gerade die fünfte Ausgabe produzieren will. Ende Februar/Anfang März 1942 werden Lechleiter, Faulhaber sowie weitere Mitglieder festgenommen, von der Gestapo brutal verhört.

Die Hinrichtung

Am 14. und 15. Mai wird 14 Angeklagten vor dem Volksgerichtshof, der im Westflügel des Schlosses tagt, der Prozess gemacht. „Der Gedanke an den nahen Tod schreckt mich nicht“, schreibt Lechleiter noch aus der Zelle an seine Frau: „Ein Mensch, der nicht fähig ist, sich für eine Idee aufzuopfern, gleich welcher Art, ist einem höheren Sinn nach kein Mensch.“ „Das höchste Ziel eines Menschen besteht darin, für andere zu leben, für andere sich aufzuopfern“, heißt es im Abschiedsbrief von Jakob Faulhaber. Am frühen Morgen des 15. September 1942 sterben dann 13 Männer und eine Frau der Lechleitergruppe in Stuttgart unter dem herabsausenden Fallbeil.

Noch am selben Morgen hängen überall in Mannheim rote Plakate mit den Namen. Georg Lechleiter, Jakob Faulhaber, Rudolf Langendorf, Ludwig Moldrzyk, Anton Kurz, Eugen Sigrist, Philipp Brunnemer, Max Winterhalter, Robert Schmoll, Rudolf Maus und Daniel Seizinger aus Mannheim, Käthe Seitz geb. Brunnemer und Alfred Seitz aus Heidelberg sowie Johann Kupka aus Ilvesheim seien „wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung, Zersetzung der Wehrkraft und Verbreitung ausländischer Rundfunksendungen zum Tode und zum dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt und hingerichtet worden“; unterzeichnet „Der Oberreichsanwalt“. Erst dadurch erfahren die Angehörigen vom Tod – so will das Nazi-Regime sie quälen und andere Leute abschrecken.

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Abschreckung – das ist stets das Ziel des Regimes, wer auch immer sich nur kritisch äußert. Sozialdemokraten bekommen das oft zu spüren. Sie sind weitere Pfeiler des Mannheimer Widerstandes, doch gibt es für sie – im Gegensatz zur Lechleiter-Gruppe – nirgendwo ein Denkmal, eine Erinnerung, außer einer Ausstellung, die 1983 der Sozialdemokratische Bildungsverein zeigt. Die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), die Gruppe „Neu Beginnen“, Zeugen Jehovas, kleine christliche Gruppen oder einzelne Pfarrer wenden sich ebenso gegen das Regime.

Brezelverkäufer verraten

Ein Beispiel für die Terrorjustiz des Sondergerichts Mannheim ist der Brezelverkäufer Jakob Reiter, an den ein sogenannter „Stolperstein“ erinnert. Reiter, der seine Brezeln in der AOK verkauft, soll sich gegenüber dem AOK-Pförtner über „die paar Männeken, die Nazi“ lustig gemacht, die Vernichtung der Juden angeprangert und die Nationalsozialisten als „Ratten“ bezeichnet haben. Der Pförtner meldet das, und der Brezelverkäufer wird von der Gestapo verhaftet und hingerichtet.

Widerstand in letzter Minute, um sinnloses Blutvergießen zu vermeiden – das leisten Hermann Adis, Adolf Doland und Erich Paul. Am 28. März 1945, der Nazi-Oberbürgermeister Carl Renninger ist längst aus der Stadt verschwunden und die amerikanischen Truppen bereits im Norden Mannheims angelangt, hissen sie auf dem Kaufhaus Vetter in N 7 eine weiße Fahne. Polizeihauptmann Otto Hugo Böse lässt sie, einen Tag vor dem Einmarsch der Amerikaner, von zwei Untergebenen an den Resten der alten Stadtmauer in den Lauerschen Gärten standrechtlich erschießen. Auf dem Hauptfriedhof gibt es ein Ehrengrab für sie. In ihm ruht zudem der Polizeihauptmeister Viktor Link, 1943 aufgrund von „regierungsfeindlichen“ Äußerungen in Haft genommen und am 11. September 1944 wegen „Wehrkraftzersetzung“ im Käfertaler Wald erschossen.

Redaktion Chefreporter

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