Berlin. Wolfgang Schäuble bringt es auf den Punkt. „Der Reichstag ist ein Symbol für die Geschichte des Jahrhunderts, in guten wie in schlechten Zeiten“, sagt der Präsident des Bundestages, selbst seit fast 50 Jahren dort Mitglied. „Fast das Happy End einer langen Geschichte. Doch Geschichte ist nie zu Ende“, weiß der dienstälteste Abgeordnete. All jene, die sich mit ihm an diesem Sonntag um ein Mandat bewerben, werden im Falle ihrer Wahl im Reichstagsgebäude in Berlin arbeiten, an einem historischen Ort.
Als 1871 das Deutsche Reich gegründet wird, erhält es zwar ein Parlament, aber kein Parlamentsgebäude. Zunächst in der Preußischen Porzellanmanufaktur in der Leipziger Straße untergebracht, fordern die Abgeordneten bald ein repräsentatives Gebäude an repräsentativem Ort. Sie erhalten es direkt neben dem Brandenburger Tor. Das dortige Adelspalais wird abgerissen.
Zur Gestaltung des Neubaus wird 1882 ein Architektenwettbewerb ausgeschrieben, 189 Entwürfe gehen ein. Sieger wird Paul Wallot aus Frankfurt. Der konzipiert nach dem Vorbild des Justizpalastes in Brüssel einen Bau im Stil der Neo-Renaissance: fast quadratisch (137 mal 100 Meter), vier Türme (stellvertretend für die vier Königreiche Preußen, Bayern, Württemberg, Sachsen), eine 78 Meter hohe Kuppel aus Eisen und Glas, die Symbol für Macht sowie für moderne Bautechnik ist.
Zunächst ohne Inschrift
Nach zehn Jahren Bauzeit erfolgt am 5. Dezember 1894 die Einweihung durch Kaiser Wilhelm II.. Der mag kein Parlament und auch nicht sein Gebäude, nennt es ein „Reichsaffenhaus“. Die von Wallot am Westportal vorgesehene Inschrift „Dem deutschen Volke“ wird vom Kaiser bereits im Vorfeld kassiert.
Ihre Zeit kommt im Ersten Weltkrieg, als besagtes Volk unter der vom Kaiser zu verantwortenden Politik leidet. Kurz vor Weihnachten 1916, 22 Jahre nach dem Bau, werden die Lettern angebracht – von der angesehenen Bronzegießerei der jüdischen Familie Loevy, deren Mitglieder später von den Nazis ermordet werden. Die heute zu sehenden Buchstaben sind bis auf zwei noch die ursprünglichen von 1916.
Als das Volk am 9. November 1918 die Macht ergreift, wird natürlich der Reichstag der Ort dafür: SPD-Fraktionschef Philipp Scheidemann ist gerade beim Mittagessen, als er die Nachricht erhält, der Linkssozialist Karl Liebknecht wolle am Schloss die Räterepublik ausrufen. Um ihm zuvorzukommen, tritt er auf die Brüstung eines Balkons und ruft vor der Menschenmenge aus: „Es lebe die Deutsche Republik!“. Wegen Unruhen tagt die Verfassungsversammlung jedoch in Weimar; so heißt die erste deutsche Republik nicht „Berliner“, sondern „Weimarer“.
1933 wird Adolf Hitler Reichskanzler. Dessen Verachtung für den Reichstag zeigt sich darin, dass er ihn bis dahin erst einmal, 1925, betreten hat: zum Essen in der Kantine. Bereits einen Tag nach seiner Ernennung lässt er den Reichstag durch den Reichspräsidenten auflösen.
Rätsel um die Brandstiftung
Fünf Tage vor den Neuwahlen, am 27. Februar 1933, 21 Uhr, kommt es zum geheimnisvollsten Ereignis der Reichstagsgeschichte: Der holländische Kommunist Marinus van der Lubbe zündet das Gebäude an. Ob der kurzsichtige Mann alleine in der Lage ist, mit ein paar Streichhölzern das massive Gebäude in Brand zu setzen, ist bis heute nicht geklärt, auch wenn er sich selbst für alleinschuldig erklärt. Fest steht, wer davon profitiert: Hitler bringt bereits am Tag darauf die „Reichstagsbrandverordnung“ auf den Weg, die die Grundrechte außer Kraft setzt. Sie ist der Beginn der Diktatur. Auch viele Abgeordnete werden ermordet.
Insofern ist es symptomatisch, dass der Reichstag nicht wieder hergerichtet wird – mit Ausnahme der Kuppel, und dies auch nur aus stadtästhetischen Gründen. Das Parlament, unter der Präsidentschaft von Obernazi Hermann Göring nur noch die Karikatur seiner selbst, tagt fortan in der Kroll-Oper gegenüber.
Im Krieg sind Fenster und Türen des Reichstages vermauert. Das massive Gebäude dient als Entbindungsstation der Charité. Bei gut 80 Berlinern steht in ihrer Geburtsurkunde als Ort „Reichstagsgebäude“.
Am 29. April 1945 beginnt der Sturm der Roten Armee auf den Reichstag. Tags darauf hisst der 21-jährige Michail Petrowitsch Minin eine selbst genähte Rote Fahne auf dem Dach. Die Sieger feiern mit viel Wodka und verewigen sich mit teils derben Sprüchen an den Wänden. Am 2. Mai schnappt sich der Fotograf Jewgeni Chaldej einige von ihnen, klettert mit ihnen aufs Dach und schießt ein Foto, das zur Ikone wird. Für Chaldej hat dieses Symbol des Sieges über den Nazismus große Bedeutung: Zwei Schwestern und der Vater wurden von den Nazis ermordet, indem sie lebendig in einen Kohleschacht geworfen wurden.
Beim Entwickeln der Fotos entdeckt Chaldej ein Detail: Ein Soldat trägt zwei Armbanduhren. Mindestens eine davon muss gestohlen sein. Das würde dem guten Ruf der Roten Armee schaden. Chaldej retouchiert eine der Uhren weg.
Mit der Teilung Berlins liegt der Reichstag im Westen – zum Glück, sonst wäre er wohl wie das Stadtschloss abgerissen worden. Es ist die Zeit des Kalten Krieges. Als am 9. September 1948 300 000 Menschen gegen die sowjetische Bedrohung demonstrieren, da tun sie das vor dem Reichstag. Bürgermeister Ernst Reuter hält seine berühmte Rede mit dem Aufruf „Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!“ Damit wird der Reichstag Symbol des Freiheitswillens der Berliner.
Alle Ideen, ihn abzureißen, sind damit ad acta gelegt. Nur die Kuppel muss 1954 fallen – aus statischen Gründen. Den Rest setzt der Bund in Stand und baut im Innern im Stil der 1960er Jahre um. Getagt wird hier so gut wie nie; der Vier-Mächte-Status Berlins verbietet das.
Reagan mit Schutzweste
Als 1961 die Mauer gebaut wird, verläuft sie nur zwölf Schritte von der 140 Meter langen Ostseite des Reichstages entfernt. Hier blicken Staatsgäste über die Mauer, US-Präsident Ronald Reagan 1987 mit schusssicherer Weste, die er sich in der Reichstags-Toilette anlegt. Doch als die Mauer fällt, kommt wieder die Stunde des Gebäudes: Auf seinen Stufen proklamiert Bundespräsident Richard von Weizsäcker in der Nacht zum 3. Oktober 1990 die Deutsche Einheit. Tags darauf tagt hier erstmals nach 57 Jahren mit dem Bundestag wieder ein Parlament.
Bald rückt er in den Mittelpunkt des Welt-Interesses: mit der Verhüllung durch Christo. Schon Anfang der 1970er Jahre hat der Künstler die Idee dazu. Die damalige Bundestagspräsidentin Annemarie Renger lehnt dies ab, alle Nachfolger bestätigen dies nach dem Motto: „Das macht man nicht.“ Erst als Rita Süßmuth 1988 das Amt übernimmt, kommt Bewegung in die Sache. Im Juni 1995 wird der Bau von 90 Kletterern mit 110 000 Quadratmetern Stoff verhüllt. Fünf Millionen Besucher besichtigen zwei Wochen lang diese künstlerische Installation.
Streit um die Kuppel
Richtige Baugerüste folgen. Den Auftrag zum Umbau, am Ende 600 Millionen D-Mark teuer, erhält 1993 der britische Star-Architekt Sir Norman Foster mit einem Honorar von 40 Millionen D-Mark. Er will nur das wieder herstellen, was da ist, etwa den Deckenschmuck Wallots, aber auch die Graffiti der Russen. Keinesfalls jedoch wieder die Kuppel.
Informationen Für Besucher
Name: Der Reichstag trägt seit dem 19. März 1999 die offizielle Bezeichnung „Plenarbereich Reichstagsgebäude“. Es war ein typischer Kom-promiss: CDU, FDP und SPD-Kanzler Gerhard Schröder waren für „Reichstag“, die SPD-Bundestagsfraktion wegen der historischen Belastung des Begriffs für „Plenargebäude“.
Hausherr: Der Präsident des Bundestages ist derzeit Wolfgang Schäuble (CDU). In der staatlichen Hierarchie der Bundesrepublik nimmt er Platz 2 ein – nach dem Bundespräsidenten und vor der Bundeskanzlerin.
Gedenken: An der südwestlichen Ecke des Gebäudes, kurz vor der Heckenbegrünung, sind 96 steinerne Tafeln angebracht. Sie tragen die Namen und Lebensdaten von Reichstagsabgeordneten, die von den Nazis ermordet wurden – alphabetisch von Julius Adler († 1945 Konzentrationslager Bergen-Belsen) bis Lotte Zinke († 1944 KZ Ravensbrück).
Besichtigung: Normalerweise sind Besuche und Führungen für Einzelpersonen und Gruppen möglich, bei denen auch der Plenarsaal und die Kuppel besichtigt werden können. Wegen Corona sind Besuche von Gruppen derzeit jedoch ausgesetzt, aber für Einzelpersonen möglich. Infos und Anmeldung unter www.bundestag.de/besucher. Bei Bedarf helfen Ihnen aber auch Ihre örtlichen Bundestagsabgeordneten bzw. deren Wahlkreisbüros weiter.
Literatur: Standardwerk ist das 1995 erschienene Buch „Der Reichstag. Parlament, Denkmal, Symbol“ des britischen Historikers Michael S. Cullen, des wohl besten Kenners der Materie. Film-Doku auf Youtube: „Superbauten. Der Reichstag“. -tin
„Dann könnte Ihr Auftrag verlorengehen“, warnt Rita Süßmuth. Und so lenkt Foster ein, schlägt zwar keine Kuppel vor, aber moderne Dachaufbauten. Doch die erinnern eher an Ufos oder Kompotthüte. Erst der 27. Entwurf findet Zustimmung: Eine 23 mal 40 Meter große Glaskuppel, die Licht und Luft in den Saal bringt und außerdem noch begehbar ist – eine Million Besucher nutzen seit der Einweihung 1998 diese Gelegenheit. Es gibt kein anderes Parlament in der Welt, in dem die Bürger den Politikern aufs Dach steigen können – welch wunderbare Symbolik für unsere Demokratie.
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