Es ist der 2. Juni 2013. Ich bin erstmals im Adlon und staune. Beim Einchecken steht Günter Netzer mit an der Rezeption; erst hier fällt mir auf, dass der Weltmeister von 1974 ja viel kleiner ist als wenn er neben Gerhard Delling steht, um im Fernsehen Fußball zu kommentieren. In der Lobby nehme ich in einem der ausladenden Sessel Platz, mir gegenüber Inka Bause („Bauer sucht Frau“). Am nächsten Morgen läuft Heinz Hönig vorbei – in einen separaten Frühstücksraum mit Blick auf das Brandenburger Tor. In der Zeitung lese ich, dass Tags zuvor auch Brad Pitt eingecheckt hat. Er kommt allerdings nicht zum Frühstück. Für uns bleibt er unsichtbar.
Das alles scheint konstruiert, ja ersonnen. Doch im Adlon ist es Realität, nahezu täglich. In diesem Berliner Nobelhotel trifft sich die Welt. Tolle Hotels gibt es viele, auch in der Hauptstadt, das Ritz Carlton am Potsdamer Platz oder das Waldorf Astoria am Kudamm. Doch zweierlei macht das Adlon einzigartig: Seine Lage am Brandenburger Tor und seine Geschichte. Sie ist längst Mythos.
Diese Geschichte beginnt mit Lorenz Adlon. Der Schuhmacher-Sohn aus Mainz ist eigentlich Schreiner, sattelt jedoch bald um auf Gastronomie. 1880 kommt er nach Berlin. Die Stadt boomt. Und hier rollt er die Gastronomie auf, übernimmt etwa das Restaurant Hiller Unter den Linden 62/63, das er zum ersten Haus am Platze ausbaut. Auch Kaiser Wilhelm speist hier mit seiner Familie.
Adlons Traum: Ein Luxushotel, direkt am Brandenburger Tor. Dort, wo ein 1829 von Karl Friedrich Schinkel erbautes Palais steht. Gegen den Abriss wehren sich Bürger und Denkmalschutz, doch der Kaiser spricht ein Machtwort. Er ist begeistert von Adlons Vision. Er will Berlin zu einer Metropole wie Paris machen, und dazu braucht es ein entsprechendes Hotel. Und einen Ort, an dem er und seine Gäste dem Hofzeremoniell entfliehen können, ohne den Luxus missen zu müssen.
Vom Kaiser eingeweiht
17 Millionen Goldmark, nach heutigem Wert 350 Millionen Euro, kostet das Projekt. Nur zwei Millionen hat Adlon an Eigenmitteln, der Rest sind Kredite, die noch lange auf dem Haus lasten werden. Doch nach nur zwei Jahren steht 1907 das Gebäude – ein Bau im Klassizismus. Im Inneren dagegen herrschen Barock und Louis-Seize. In allen 305 Zimmern gibt es Telefon, beheizbare Handtuchhalter und fließend warmes Wasser. Bei der Einweihung dreht Wilhelm II. in vielen Zimmern das Wasser auf – so ungläubig begeistert ist er davon. Denn in seinem Stadtschloss ist es weniger komfortabel: „Bei mir ist es kalt“, jammert er und rät daher seinen Verwandten: „Geht ins Adlon.“
Die Kaiserjahre sind die goldenen Jahre des Adlon. Hier entsteht der Ruf, den das Haus nie mehr verliert. Im Weinkeller lagern eine viertel Million Flaschen. In den Restaurants herrscht ein französischer Chefkoch. Spezialität ist Seezunge mit Sauce espagnole – aus dunklen Rinderknochen, sehr scharf, fruchtig, süß.
1913 schreibt das Haus Geschichte. Die Tochter Kaiser Wilhelms II. heiratet, seine Cousins, König Georg von England und Zar Nikolaus II. von Russland, reisen an und logieren im Adlon. Auf den Zaren ist dort ein Attentat geplant: Ein Agent der russischen Geheimpolizei wird tot im Lichtschacht gefunden. Als Lorenz Adlon die Polizei rufen will, gesteht sein Vize, eine Bombe im Safe deponiert zu haben – und erschießt sich. Jedoch mit Handtuch über dem Revolver, um die Gäste nicht zu stören.
1914 wird schlimmer geschossen. Soldaten ziehen in den Krieg, am Adlon vorbei. Auf den Balkonen winkt der Adel huldvoll. Das Hotelpersonal muss nicht an die Front; es kann dem Vaterland und seinen Spitzen auch als Kellner im Adlon dienen. Doch 1918 ist damit Schluss: Revolution. Schüsse peitschen vom Brandenburger Tor über den Pariser Platz und zerstören im Adlon die Fenster der Eck-Appartements. Tagelang toben Kämpfe um das Hotel. 1919 wird das Adlon Hauptquartier der Alliierten, US-Soldaten posieren für Fotos um den legendären Elefantenbrunnen.
Lorenz Adlon kann das nicht verkraften. Verwirrt stellt er sich täglich in die mittlere Spur des Brandenburger Tores, die bis 1918 alleine dem Kaiser vorbehalten ist, um zu warten, dass Seine Majestät erscheint. Zweimal wird er dabei überfahren, das zweite Mal, 1921, überlebt er nicht.
Nachfolger wird sein Sohn Louis, der sich gerade auch privat neu orientiert. Beim Silvesterball 1920 lernt er die Deutsch-Amerikanerin Hedda kennen, verlässt nach 15 Jahren Ehe seine Frau Tilly und die fünf Kinder – ein Skandal, den der Rest der Familie ihr nie vergibt. „In der Familie wurde sie nur ,Hedda, das Mistvieh’ genannt“, erinnert sich Felix Adlon, der Ururenkel des Hotelgründers, 2021.
Zwischen 1925 und 1930 zählt das Hotel zwei Millionen Gäste. Scharen strömen nach Berlin, um das neue Sündenbabel zu erleben. Das Gästebuch liest sich wie ein Who is Who der 1920 Jahre: Thomas Mann, Albert Einstein, Marlene Dietrich. In der Drehtür verliert Charlie Chaplin seine Hose; Fans haben ihm die Knöpfe abgerissen. Josephine Baker muss eine der ersten rassistischen Demos von Nazis ertragen. Stummfilmstar Pola Negri beginnt ein Verhältnis mit dem gerade erst volljährig gewordenen Louis Adlon jr. Sogar Alexandra Kollontai, Weggefährtin Lenins, logiert hier. In der Parteizeitung „Rote Fahne“ empören sich Berlins Kommunisten über die Bolschewikin.
Als Page arbeitet hier in den 1930er Jahren ein gewisser Peter Frankenfeld. Als dem Reichspräsidenten von Hindenburg eine Eisbombe serviert werden soll, kann er nicht widerstehe, nascht und wird erwischt. Nach dem Kriege wird er Deutschlands bekanntester Fernsehshowmaster.
NS-Zeit und Krieg
Am 30. Januar 1933 ist Schluss mit Freiheit: 25 000 Nazis ziehen durchs Brandenburger Tor, am Adlon vorbei. Doch die mögen es nicht: Wegen seiner Internationalität gilt es als undeutsch, sie bevorzugen den „Kaiserhof“ in der Wilhelmstraße. Ohnehin ändern sich auch für das Adlon die Zeiten. Sogar die Speisekarte: Aus Ragout wird Würzfleisch. Jüdische Künstler, Angestellte und Gäste werden aus dem Hotel gedrängt und später unter den Opfern des Holocaust sein, für die auf der Rückseite des Hotels heute das große Mahnmal liegt.
Auf der anderen Seite gelingt es den Adlons, ihr Haus zu halten. 1936 wird es Olympia-Hotel, die Spitzen des IOC steigen hier ab. Ufa-Stars gehen ein und aus, Heinz Rühmann und die unsägliche Leni Riefenstahl. 1940 tritt Louis Adlon der NSDAP bei. Dennoch pflegt er Kontakt zum Widerstand, ist befreundet mit dem 1944 hingerichteten General Paul von Hase. Am Vorabend des Attentats vom 20. Juli treffen sich beide im Adlon zum Abschieds-Champagner.
Mit dem Krieg hat sich alles geändert. Die westlichen Gäste bleiben aus. Ein Luftschutzbunker entsteht, der bei der Neubebauung 1992 freigelegt wird. Er ist luxuriös, dank Möbeln und Teppichen von oben, und der gut bestückte Weinkeller ist ja ohnehin in Reichweite. Bei Bombenalarm retten sich Künstler aus dem Schauspielhaus und dem Staatstheater hierher und beruhigen sich erst einmal bei einem Glas Champagner.
Oben dagegen ist Hölle, erst recht in den letzten Kriegstagen. Da wird das Haus zum Lazarett, weil als einziges am Pariser Platz und im Gegensatz zum Konkurrenten „Kaiserhof“ nur leicht beschädigt. In der Nacht zum 3. Mai 1945 brennt es dennoch ab: Im Weinkeller lassen feiernde Rotarmisten eine brennende Zigarette in die Holzwolle-Verpackung fallen. Niemand löscht. In diesem Inferno hat man wirklich andere Sorgen.
Louis und Hedda erleben das Kriegsende in ihrem Landhaus bei Potsdam. Am 24. April 1945 wird es von Rotarmisten besetzt, die hier einen hochrangigen Nazi vermuten. Die Küchenhilfe will helfen und sagt, das sei doch nur der Generaldirektor vom Hotel Adlon. Die Russen verstehen nur General und führen ihn ab. Da sie ihm nichts anhängen können, setzen sie ihn zwei Wochen später einfach vor die Tore ihres Quartiers. Das alles ist zu viel für ihn: Mitten auf der Straße erleidet er einen Herzinfarkt und stirbt am 7. Mai 1945. Seine Frau Hedda geht in den Westen.
Niedergang und Neuanfang
Nach der Teilung Berlins gehört das Adlon zum sowjetischen Sektor. Im unzerstörten Seitentrakt in der Wilhelmstraße geht der Betrieb weiter. In diese Zimmer ziehen aus dem Exil heimkehrende Emigranten, bis sie eine Wohnung zugeteilt bekommen: Brecht, Helene Weigel, Anna Seghers.
Durch den Mauerbau 1961 wird der Standort zum Fluch: Vom Zentrum rückt das Haus an den Rand, direkt an den Todesstreifen. Die Kellerräume werden zugemauert. Ihre Staatsgäste bringt die DDR fortan im Hotel „Unter den Linden“ unter. Das Adlon wird eine HO-Gaststätte, in den 1970er Jahren Lehrlingswohnheim. 1984 beschließt das ZK der SED höchstselbst den Abriss – was nur die Bedeutung des Baus unterstreicht.
Nach dem Fall der Mauer 1989 werden die Karten neu gemischt. Die von den Sowjets enteignete und 1967 verstorbene Hedda hat schon 1957 den Namen Adlon und die Vorkaufsrechte am Grundstück an die Nobelhotelkette Kempinski verkauft. Diese baut nun an alter Stelle, Investitionsvolumen etwa 400 Millionen D-Mark, äußerlich weitgehend angelehnt an das ursprüngliche Aussehen.
Am 23. August 1997 durchschneidet Bundespräsident Roman Herzog das Band. Zum zweiten Mal weiht ein deutsches Staatsoberhaupt das Hotel ein. Einmalig. Aber angemessen für ein Haus, das den Anspruch erhebt, das erste am Platz sein zu wollen.
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