Die Tochter muss kommen, schnell. Man sitzt beim Mittagessen im Mannheimer Palais Bretzenheim an jenem Septembertag. Hier residiert, zu dem Zeitpunkt seit zwei Jahren, Baron Paul Hubert Adriaan Johan Strick van Linschoten, ein niederländischer Diplomat. Am 30. September 1815 hat er einen besonderen Gast. Es ist Johann Wolfgang von Goethe. Aber es sind, oh Schreck, 13 Leute am Tisch. „Aufregung“ schreibt Goethe daher später in sein Tagebuch, denn zu jener Zeit ist man sehr abergläubisch. Also wird Tochter Betty, offiziell Baronesse Elisabeth, gerufen. Sie ist zwar erst 15 Jahre alt, aber darf nun ebenso Platz nehmen. Das hat Folgen.
Die Baronesse trägt nämlich einen prachtvollen Smaragdring. Goethe ist fasziniert von dem Schmuckstück, informiert – besser wohl: belehrt – das Mädchen über die dem Stein seit der Antike zugeschriebenen Eigenschaften. Dass ihn der grüne Stein stark beschäftigt, belegt nicht nur sein Tagebucheintrag, wo er ihn eigens erwähnt. Er widmet dem Smaragd ein Gedicht, das er gleich am nächsten Tag verfasst, mit einem Brief an Elisabeth schickt und zudem in seine 1819 erschienene umfangreichste Gedichtsammlung West-östlicher Divan aufnimmt. „So gefährlich ist dein Wesen / Als erquicklich der Smaragd“, heißt es da.
Vom Liebreiz angetan
Die nur durch Zufall und Aberglaube anwesende 15-Jährige scheint es dem seinerzeit 66-jährigen Dichter also irgendwie angetan zu haben. Er sei von ihrem „engelhaften Ausdruck, geistreich und gebildet“ sowie „ihrem Liebreiz angetan“ gewesen, meint Hanspeter Rings, lange Stadthistoriker beim Marchivum, Mannheims Haus der Stadtgeschichte und Erinnerung.
Doch nicht allein durch eine Diplomatentochter wird der wohl berühmteste deutsche Dichter in Mannheim inspiriert. Goethe hält sich zwischen 1769 und 1815 insgesamt acht Mal in der Quadratestadt auf. Mannheim sei schließlich „gerade im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert eine wichtige europäische Kulturstadt, noch ehe sie Industrie- und Handelsstadt geworden ist“, sagt Jens Bortloff, Vorsitzender der Goethe-Gesellschaft Mannheim Rhein Neckar, 2010 gegründet und damit jüngste Ortsvereinigung der 1885 gegründeten Goethe-Gesellschaft in Weimar.
„Wald von Statuen“
Natürlich verbinde man Mannheim angesichts seiner hier 1782 uraufgeführten „Räuber“ in erster Linie mit Friedrich Schiller, weiß Bortloff. „Mannheim gehört zwar nicht zum engeren Kreis der Goethestädte, aber ist doch von einiger Wichtigkeit für ihn und sein Werk“, betont er. Und ganz besonders sei Goethes „Verständnis der Antike in Mannheim geprägt worden“, so Bortloff.
Das liegt besonders an seinem ersten Aufenthalt im Oktober 1769. Goethe ist da gerade mal 20 Jahre alt, Mannheim noch eine barocke Festung und als Regent sitzt Kurfürst Carl Theodor im Schloss, der zahlreiche Geistesgrößen jener Epoche um sich schart und seine Residenz zu einem Mittelpunkt europäischer Kunst und Kultur werden lässt.
Zwar sucht Goethe – im Gegensatz zu Wolfgang Amadeus Mozart – laut Hanspeter Rings „keine offizielle Beziehung zum Hof“, sprich keine Anstellung oder Aufträge. Aber er profitiert vom blühenden Kulturleben, genießt es. Belegt ist etwa ein Besuch der in F 6,1 vom Kurfürsten gegründeten, von Hofbildhauer Peter Anton von Verschaffelt geleiteten Zeichnungsakademie zur Ausbildung des Künstlernachwuchses.
Hier hat Verschaffelt einen Antikensaal eingerichtet, der sich laut Rings schnell zur „intellektuellen und künstlerischen Pilgerstätte entwickelte“. Er besteht aus Abgüssen jener antiken Skulpturen, die Carl Theodors Vor-Vorgänger ab 1709 in Rom und Florenz für sein Schloss hat anfertigen lassen. Kaum in Mannheim angelangt, „eilte ich mit größter Begierde, den Antikensaal zu sehen, von dem man viel Rühmens machte“, schildert Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ seinen ersten Mannheim-Aufenthalt, schwärmt von „den wundersamsten Eindrücken“ und „herrlichen Gebilden“ in diesem „Wald von Statuen“, besonders von Apoll und der Laokoon-Gruppe. Goethe ist in guter Gesellschaft – Schiller, Herder, Humboldt und Lessing besuchen den Antikensaal in jenen Jahren.
Flucht vor der Ehe
Aber kaum einer hat so viel darüber zu Papier gebracht wie Goethe. „Die Initialzündung zu der Schrift über Laokoon erhielt Goethe im Antikensaal“, ist Rings überzeugt, und in anderen Schriften hätten seine Eindrücke ebenso fortgewirkt.
Auch das kurfürstliche Opernhaus hinter dem Westflügel des Schlosses sowie die naturgeschichtlichen Sammlungen und die vielen prächtigen Gemälde im Ostflügel besucht Goethe bei seinem ersten Mannheim-Aufenthalt. Und er wird nachdenklich. In einem Brief an seinen Freund, den Bibliothekar Ernst Theodor Langer, äußert er „den Verdacht, dass der Kurfürst seine Einkünfte überschreitet“.
Zum zweiten Mal trifft Goethe im Oktober 1774 in Mannheim ein. Mit ihm in der aus Frankfurt kommenden Kutsche sitzt der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock, der aber nach Karlsruhe weiterreist. Es ist das Jahr, in dem Goethes „Leiden des jungen Werther“ erscheinen. Laut Hanspeter Rings soll die einst unerfüllte Liebe zu einer Tochter des Mannheimer Hofbildhauers Paul Egell, Katharina, den Selbstmord des Mannes in Wetzlar ausgelöst haben, den Goethe in seinem berühmten Briefroman thematisiert.
Goethe-Spurensuche in Mannheim
Antikensaal: Den Antikensaal aus Goethes Zeit gibt es nicht mehr. Nachdem Kurfürst Carl Theodor 1778 nach München übersiedelte, sollten auch die Abgüsse nach München kommen – sie gelten aber als verschollen. In den 1970er Jahren gelang es dem 2005 verstorbenen Mannheimer Archäologen Wolfgang Schiering, neue Abgüsse in der Tradition der alten Sammlung zu erwerben. Seit 2017 werden sie im Ostflügel des Schlosses neu präsentiert und können dort besichtigt werden.
Goethe-Spaziergang: Wer die Orte Goethes in Mannheim erkunden will, startet am Schloss, geht über Palais Bretzenheim (A 2) und Schillerplatz/ehemaliges Nationaltheater (B 3) nach M 2, 5 (Wohnhaus Ferdinand Kobell), D 1, 1 (Kunsthandlung Artaria), D 2,14 (Wohnhaus Christian Friedrich Schwan), D 3, 2 (Wohnhaus Sophia Friederike Freifrau von Seckendorf), G 2, 2 (ehem. Gasthof „Drei Könige“ am Marktplatz), R 1, 6 ehem. Gasthof „Goldenes Schaf“) nach F 6, 1 (Zeichnungsakademie/Antikensaal). Teilweise erinnern Tafeln der Marchivum-„Stadtpunkte“ an die Historie der Gebäude.
Scherbenbrunnen: In D 5 auf der Seite zu E 5 steht der „Scherbenbrunnen“ mit dem Goethe-Zitat aus „Hermann und Dorothea“ vom gleich und heiter gebauten Mannheim. Aufgestellt wurde er 1988 aus Funden der Baustelle des Neubaus der Reiss-Engelhorn-Museen auf D 5.
Benennungen: Nach Goethe benannt sind in Mannheim seit 1900 die ehemalige Parkstraße und der dortige Tennisplatz, wo 1957 das Nationaltheater erbaut wurde. Eine Goethe-Büste, ebenso 1900 aufgestellt, ist verschwunden.
Buch: Hanspeter Rings, „Johann Wolfgang Goethe in Manheim“, Morio-Verlag, 7,95 Euro.
Buch-Spezialist: Auf aktuelle und historische Ausgaben von Goethe spezialisiert ist Joachim Krause, Quadratebuchhandlung/Antiquariat, R 1, 7, 68161 Mannheim. pwr
Davon, was Goethe 1774 macht, ist wenig überliefert. Anders beim dritten Aufenthalt im Februar 1775, wo belegt ist, dass er auf Maler Friedrich Müller sowie Hofbuchhändler und Verleger Christian Friedrich Schwan trifft.
Im Mai 1775 macht Goethe – eigentlich auf dem Weg in die Schweiz – erneut der Quadratestadt seine Aufwartung. „Mannheim lag günstig an den Nord-Süd- und Ost-West-Reiserouten, was mancher Bildungsreisende zum Anlass nahm, hier Station zu machen“, sagt Hanspeter Rings. Allerdings fügt er schmunzelnd an, Goethe sei da auch „auf der Flucht“ vor seiner Frankfurter Verlobten Lilie Schönemann. Sie will ihn heiraten, er fürchtet die Ehe. Aber eine lebenslange Freundschaft bleibt. Lieber wird Goethe ab 1776 am Hof von Herzog Karl August in Weimar Mitglied seines Beratergremiums. Der erhebt ihn 1782 gar in den Adelsstand.
Schon 1779, Kurfürst Carl Theodor hat Mannheim zwei Jahre zuvor Richtung München verlassen, verpasst Goethe eine Gelegenheit. Intendant Wolfgang Heribert von Dalberg will zur Wiedereröffnung des nun nicht mehr unter Leitung des Hofes stehenden, als deutschsprachige Bühne gegründeten Nationaltheaters am 7. Oktober 1779 die Uraufführung von „Iphigenie auf Tauris“ bringen. Das Stück war in Weimar nur im privaten Kreis gezeigt worden, Goethe hält es aber für noch nicht aufführbar und lehnt ab.
Viele wichtige Leute
Wenige Monate später kommt der Dichter aber doch ans Nationaltheater. Es ist sein fünfter Abstecher nach Mannheim, diesmal in besonderer Begleitung. Er reist mit seinem Chef, Herzog Karl August, und nach der Schweiz, Stuttgart und Karlsruhe treffen sie im Dezember 1779 in den Quadraten ein. Intendant Dalberg arrangiert am 22. Dezember eine Aufführung von „Clavigo“ mit dem gerade frisch verpflichteten August Wilhelm Iffland als „Carlos“, der später seinem Bruder in einem Brief stolz berichtet, von Goethe selbst belobigt worden zu sein.
Auch ein Besuch des Dichters bei Landschaftsmaler Ferdinand Kobell sowie ein Abendessen bei Verleger Schwan sind von diesem Besuch überliefert. Besonders beeindruckt zeigt sich Goethe von Abel Schlicht, Zeichner und Kupferstecher: „Den jungen Schlicht werde ich mir merken“, notiert er.
Dann aber vergehen 14 Jahre, bis zum August 1793, bis Goethe wieder in Mannheim auftaucht. Er wird zu jener Zeit am Nationaltheater oft, aber nicht so oft wie Schiller oder August von Kotzebue gespielt. Doch Goethe hat da wenig Zeit für Kultur, es ist nur ein kurzer Abstecher zum Prinzen Louis Ferdinand von Preußen, der in Mannheim eine Kriegsverletzung ausheilt. Goethe kommt vom Lager Marienborn, wo er mit Herzog Karl August die Kämpfe der napoleonischen Kriege um die Festung Mainz beobachtet und in einer tagebuchartigen Schrift schildert.
Ab 1803 wird Mannheim Teil von Baden, es ist keine Festungs- und Residenzstadt mehr, sondern statt dicker Bastionen von Grün umgeben und immer noch Kulturmetropole.
Im Oktober 1814 trifft Goethe, eigentlich auf einer langen Reise entlang von Rhein, Main und Neckar in Heidelberg residierend, zu seinem siebten Besuch in Mannheim ein. „Mutmaßlich klapperte er aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung einige wichtige Leute ab. Sie hatten sich in dem an Rhein und Neckar schön gelegenen Mannheim mit seinem guten kulturellen Angebot zur Ruhe gelassen“, so Rings. Es ist nur ein Tagesausflug, aber am 6. Oktober schreibt der Schriftsteller seiner Frau Christiane (geborene Vulpius) wieder, dass er von dem „regelmäßigen Mannheim“ mit seinem quadratischen Grundriss so begeistert sei.
Brief an den Sohn
Das hat der große Dichter bereits 1796/97 gezeigt. Schon in seinem Epos „Hermann und Dorothea“ stimmt er nämlich eine Hymne an, die sich ähnlich wie jetzt der Brief an seine Frau anhört. „Darum hab ich gewünscht / es solle sich Hermann auf Reisen / Bald begeben und sehn zum wenigsten Straßburg und Frankfurt / Und das freundliche Mannheim, das gleich und heiter gebaut ist.“ Er habe der Stadt damit „ein bleibendes Denkmal“ in der Literatur gesetzt“, heißt es im Katalog des einstigen, bis zur Zerstörung im Zweiten Weltkrieg in E 7, 20 ansässigen Theatermuseums über die Beziehung Goethes zu der Stadt. Auch wenn dessen Werke „langsamer den Weg zur Mannheimer Bühne gefunden als die Schillers“, habe ihn „die Freude an der Schlichtheit und Geradheit einer deutschen Bürgerstadt begeistert“. Das belegt ebenso Goethes Brief an seinen Sohn Alexander vom 7. November 1808. „Dabey empfehle ich euch, ja ich trage es euch auf, zusammen nach Mannheim zu fahren, damit die Mutter eine Stadt sehe, dergleichen sie noch nicht gesehen hat“.
Frühe Fanpost
Sein achter Besuch im September 1815 erfolgt wieder mit Herzog Karl August, der mit dem Großherzog von Baden und dem Prinzen Christian von Darmstadt auf die Jagd geht. Herzog und Goethe, zu der Zeit Direktor des Weimarer Nationaltheaters, residieren im Gasthaus „Zu den drei Königen“ am Marktplatz, besuchen das Theater, treffen Künstler und hier residierende Diplomaten – eben auch Baron Paul Hubert Adriaan Johan Strick van Linschoten, der zwei Jahre später preußischer Kammerherr wird. Das Mittagessen mit ihm im Palais Bretzenheim ist Goethes letzter Mannheim-Aufenthalt.
„Dennoch war ihm die Stadt als Teil des Netzwerks europäischer Kulturstädte weiterhin präsent“, schließt Hanspeter Rings aus dem Briefwechsel des Dichters, den er auswertete und unter denen zahlreiche Schreiben aus Mannheim – etwa von Schiller, Dalberg, Iffland, und anderen Künstlern – seien. Erhalten ist aber auch der Brief einer Mannheimer Putzmacherin, die Hutverzierungen herstellt. Die 44-jährige Margarethe Niesner wendet sich zu Goethes 81. Geburtstag 1830 an ihn, gratuliert ihm mit einem Gedicht, fügt ihre Biografie bei und bittet ihn, er möge ihr eine Stelle als Gesellschafterin besorgen, damit sie für das Alter „geborgen“ sei. „Fanpost“ würde man heute sagen, meint Rings, weiß aber nicht, ob Goethe den Brief jemals beantwortet hat.
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