Mannheim. Er ist der Jazzmusiker der Stunde: Der US-amerikanische Tenorsaxofonist James Brandon Lewis wird gerade mit Preisen überhäuft. Das US-Magazin „Downbeat“ etwa kürte ihn zum Künstler und zum Saxofonisten des Jahres. Am Freitag, 24. Oktober, spielt er bei Enjoy Jazz im Karlstorbahnhof Heidelberg. Im Interview spricht er über sein musikalisches Konzept.
Mister Lewis, für Sie gibt es offenbar keine Genre-Grenzen. Sie spielen mit der Alternative-Rockband Messthetics, haben Tributes an Billie Holiday, aber auch an Don Cherry aufgenommen, leiten ein akustisches Quartett. Woher kommt dieser Eklektizismus?
James Brandon Lewis: Ich fürchte Selbstzufriedenheit. Ich will nicht langweilig oder faul werden. Das hält mich am Leben und bringt mich voran.
Ihre Musik ist experimentell, aber auch tief verwurzelt in der Tradition von Jazz, Blues und Gospel. Ich höre Anklänge an Sonny Rollins, John Coltrane, Albert Ayler. Fühlen Sie sich dieser Tradition zugehörig?
Lewis: Ich weiß nicht, was experimentell bedeutet. Wenn Sie damit authentisch und originär meinen, dann fühle ich mich auf jeden Fall als Teil der Abstammungslinie all jener, die ich studiert und gehört habe, aus der afroamerikanischen Kultur und darüber hinaus.
Die Kunst des Lebens ist komplex, nicht kurzsichtig.
Als Journalist muss man nun mal, um Musik zu beschreiben, mit Stilkategorien arbeiten. Nochmal: Für mich vereinen Sie Tradition und Avantgarde. Wie schaffen Sie es, die beiden Pole zusammenzubringen?
Lewis: Die Kunst des Lebens ist komplex, nicht kurzsichtig. Ich respektiere das ganze, vollständige Kontinuum der Klangpalette. Sound ist inklusiv, nicht exklusiv. Sound ist Akzeptanz, nicht Zurückweisung. Sound kennt keine Hierarchie. Ich mag es, die Grenzen des Akzeptierten zu verwischen.
Aber würden Sie mir nicht zustimmen, wenn ich sage, dass im Zentrum Ihrer Musik, wie vielgestaltig sie auch sein mag, die gute, alte Blues-Ästhetik des Storytelling, des Geschichten-Erzählens steht?
Lewis: Der Blues ist auf vielerlei Art wie Sauerstoff. Seine Schwerkraft liegt in seiner Essenz, seinem Gefühl. Sie liegt im Subjektiven, und nicht in seinem Sound, nicht in der „Blues-Skala“. Das ist ein Standpunkt, der tatsächlich messbar und quantifizierbar ist.
Meister aller Klassen
James Brandon Lewis, geboren 1983, mischt zurzeit die Jazzszene auf. Seine diversen Projekte sorgen für Furore: Der Tenorsaxofonist spielt mit der Alternative-Rockband The Messthetics, sein Quartett, 2023 mit dem Deutschen Jazzpreis prämiert, zählt zu den besten zeitgenössischen Jazzensembles. Sein neues Trio-Album „Apple Cores“ ist für einen Grammy nominiert.
Als Kind wurde Lewis von Gospelmusik beeinflusst. Nach einer intensiven Universitätsausbildung veröffentlichte er 2010 sein erstes Album. Seither sind 15 Platten erschienen. Charakteristisch für ihn sind avantgardistische Spieltechniken mit Spaltklängen, polyphonen Sounds, Überblaseffekten, aber auch die Beherrschung traditioneller Spielweisen – und nicht zuletzt sein kraftvoller Ton.
Am Freitag, 24. Oktober, 20 Uhr, spielt er mit seinem gefeierten Quartett (Aruan Ortiz: Piano, Brad Jones: Bass, Chad Taylor: Schlagzeug) bei Enjoy Jazz im Karlstorbahnhof Heidelberg .
Man liest viel über Ihr Konzept einer „molekularen systematischen Musik“. Könnten Sie dieses System beschreiben, für mich klingt es nach seriellen Strukturen?
Lewis: Molecular Systematic Music (MSM) ist ein von mir entwickeltes Improvisations- und Kompositionssystem, das im wörtlichen Sinn wie auch metaphorisch von der Molekularbiologie beeinflusst ist. Das ursprüngliche System hat nichts mit serieller Musik zu tun, aber die neuere Version des Systems, die zweite Stufe seiner Entwicklung, ist von Zwölftonmusik beeinflusst. Das Wissen um Musik und Molekularbiologie könnte in Zukunft wichtig sein, wenn ich ein Buch über die Welt der MSM veröffentlichen werde. Die erste Hälfte meines Systems basiert auf sieben katabolischen harmonischen Environments (Umgebungen). Alle sind abgeleitet von der Zeichnung eines Moleküls, die ich mal für mich angefertigt habe. In ihr werden harmonische Informationen festgelegt.
Ich denke, Nostalgie wird zu einem Problem, wenn sie der Gegenwart nicht erlaubt, sich frei auszudrücken.
Das alles klingt sehr komplex. Haben Sie nicht das Gefühl, dass im zeitgenössischen Jazz etwas verloren gegangen ist – die Schönheit des Einfachen, die dem Spiel eines Johnny Hodges, Lou Donaldson oder Chet Baker zu eigen war?
Lewis: Ich denke, Nostalgie wird zu einem Problem, wenn sie der Gegenwart nicht erlaubt, sich frei auszudrücken. Musik existiert immer in ihrer Zeit, was heute gesagt werden kann, wird in hundert Jahren nicht mehr bemerkt werden. All die Musiker, die Sie genannt haben, sind sehr komplex. Ich denke, Musik entwickelt sich weiter. Das heißt nicht, dass sie besser oder schlechter wird, es bedeutet nur, dass sie das Wesen unserer Existenz widerspiegelt. Die Dinge bleiben nicht, wie sie sind. Schönheit existiert nach wie vor, wenn man nach ihr sucht. Ich mag viel großartige Musik aus der Vergangenheit, aber als Künstler habe ich nicht das Bedürfnis, sie wiederzubeleben oder nachzuahmen.
Sie haben einmal gesagt, Jazz zu spielen, sei „eng verknüpft mit dem Leben und den Geheimnissen der Existenz“. Glauben Sie, dass die Jazz-Erfahrung Musizierende wie Zuhörende in ihren Einstellungen und Wahrnehmungen verändert?
Lewis: Existenz ist eine Einheit, sie kennt keine Kategorien. Je länger wir leben, desto stärker werden wir beeinflusst. Man kann Einflüssen nicht entgehen. Ich weiß nicht, was Sie mit Jazz-Erfahrung meinen. Ich denke, Musik zu machen, beinhaltet eine gewisse Essenz von Leben. Wir Musiker verleihen der Musik Bedeutung, wir vermitteln Werte. Wenn es Liebe ist, dann vermitteln wir in unserem Spiel Liebe, und so weiter …
Ihr Quartett, mit dem Sie bei Enjoy Jazz auftreten, gibt es seit fünf Jahren. Wie finden Sie die Balance zwischen sich Verstehen und Überraschung, ohne in Routine zu verfallen?
Lewis: Ich denke, es zeichnet jedes einzelne Mitglied dieses Ensembles aus, dass wir nicht an einem Ort verharren möchten. Wir alle sehnen uns danach, zu wachsen und verschiedene Arten des Daseins zu erkunden. Das liegt in unserer Natur.
Aber gibt es in der Musik noch Neues zu entdecken? Man kann doch nicht freier spielen als John Coltrane, Töne noch mehr aufsplitten als Evan Parker oder kreativer mit Melodien jonglieren als Ornette Coleman?
Lewis: Diese Art, zu denken, ist limitiert. Ich mache niemals Musik und denke dabei, dass alles schon entdeckt worden ist. Wenn das zuträfe, würde ich wohl nicht spielen. Und ich spiele auch nicht, um für die Welt oder für Mitmusiker etwas zu entdecken. Ich mache Musik, um die Wahrheit zu offenbaren, wer ich bin und was unsere Existenz wirklich ist. Ich bin auf der Suche nach Wahrheit. Ich bin auf der Suche nach Offenbarung, und nicht danach, was andere schon gemacht haben. Es gibt immer etwas Neues zu lernen.
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