Mannheim. Dieses Konzert erfordert Denken beim Zuhören. Denn das Enjoy-Jazz-Projekt von Claus Boesser-Ferrari beschwört keine Emotionen. Vielmehr kreist es um ein gedankliches Konzept: Es geht um nicht weniger als um das Verstehen der Welt, das künstlerisch ergründet wird. Seine Auseinandersetzung mit dem Roman „Das Prinzip“ von Jérôme Ferrari (nicht verwandt) bringt der Gitarrist als Multimedia-Performance auf die Bühne der Alten Feuerwache Mannheim. Mit dabei: die Filmemacherin Mia Ferrari, seine Tochter, und der Kölner Perkussionist Joss Turnbull, der früher lange in Mannheim aktiv gewesen ist.
In dem Buch geht es um den Physiker Werner Heisenberg und seine Theorie der Unschärferelation. Die basiert – sehr vereinfacht ausgedrückt – auf der Erkenntnis, dass das Wesen der Welt nicht materiell fassbar ist, sondern sich permanent in Auflösung befindet. Dem entsprechend betont die anspruchsvolle Darbietung das Prozesshafte und nicht das Abgeschlossene, Fertige. Es gibt so gut wie keine festgelegten musikalischen Themen, Melodien klingen im Strom der freien Improvisation allenfalls als Ahnung an.
Dichte Korrespondenz zwischen Film und Musik
In enger Übereinstimmung mit den zugespielten Projektionen kreist das Geschehen um Verfestigung und Verflüchtigung von Ideen – musikalischen wie visuellen. Es beginnt vage: mit hingeworfenen, schwebenden Gitarren-Floskeln und gärenden, rumorenden Soundscapes, die Turnbull auf einem elektronischen Instrumentarium erzeugt, das seine Trommelklänge sphärisch verfremdet. Dazu werden anfangs Schriftbilder eingeblendet, auf denen Textpassagen des Romans erscheinen, nur um sogleich wieder zu verschwimmen.
So entspinnt sich ein subtiles Wechselspiel zwischen konkreten visuellen Darstellungen und sich allmählich konturierenden klanglichen Entsprechungen, die aber rasch wieder ins Ungefähre entschwinden. Schemenhafte Bilder von abstrakten weißen Farbtupfern, die sich schließlich als Aufnahmen von Schwänen erweisen, korrespondieren mit Gitarren-Sounds, die sich mit blues-beseelter Expressivität konkretisieren oder auch mit Akkordsequenzen, die an US-amerikanischen Folk erinnern. Boesser-Ferraris Obsession für melancholische Schönklang-Episoden kommt auch in diesem experimentellen Kontext zum Zuge.
Es gibt auch sonst verblüffende Momente eher konventioneller Art: Als Bilder einer Zug- oder Autofahrt mit vorbei rauschenden Impressionen erscheinen, bringt Turnbull plötzlich fest fixierte Rhythmen von zupackender Motorik ins Spiel. Auf Einblendungen prasselnder Regentropfen-Patterns reagiert Boesser-Ferrari mit perkussiven Stakkato-Sequenzen. Aber schon im nächsten Moment zerfließen die Motive auf der Leinwand wieder zu Schlieren.
Hörend wird man so Zeuge eines andauernden Verstehens- und Verständigungsprozesses. Es geht dabei nicht nur um das Begreifen der Welt, die sich hier in Bild und Ton manifestiert, sondern auch um das Wesen kreativen Tuns: das Filtern und Destillieren von Ideen aus dem großen Hintergrundrauschen der Geräusche und der Vielzahl ständig präsenter visueller Reize. Am Ende ebbt die Musik allmählich ab, der Großstadtlärm von außen verschmilzt mit dem Nachhall der Klänge. Welt und Musik, sie werden eins.
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