Mannheim. Wieder wird das Publikum auf die Bühne gebeten. Beim letzten von insgesamt vier Gastspielen des Festivals „Und Jetzt?“ bewegen sich die Besucher im eigenen Tempo um die vier Bühnenseiten vom Mannheimer Eintanzhaus. Und wieder ist das Publikum aufgefordert, sich auf die choreografischen Elemente einzulassen. Dazu zählen: die Lichterkette entlang der vier Bühnenseiten, die über die Köpfe hinweg den Weg leuchtet, die im Zentrum der Bühne strahlenden Birnen am elliptisch geschwungenen Draht, ein Mischpult am linken Rand samt Soundkünstler Raphael Raccuia, der den Raum vorerst in einen sanften Umgebungsklang hüllt, und die vier Performerinnen und Performer der Kompanie Rahu LaMo, die sich samt Choreografin Géraldine Chollet unter das Publikum mischen.
„Ouverture“ nennt sie ihr Werk, das neben „Eröffnung“ auch „Durchbruch“ oder „Aufgehen“ bedeuten kann. Was einem aufgeht oder sich eröffnet und durchbricht, ist sicher sehr individuell. Jede und jeder Einzelne wird bei dieser Tanzperformance aber nicht nur mit sich selbst konfrontiert. Denn, wenn wir die Performer in ihrem Tun beobachten, sind wir immer auch ein Teil des Ganzen.
„Und jetzt“-Festival Mannheim: Von mittelalterlicher Tradition des Mysterien-Theaters inspiriert
Chollet ist mit ihrer Kompanie im schweizerischen Lausanne ansässig und hat sich für „Ouverture“ mit Mysterienspielen des Mittelalters beschäftigt. Daher rührt der rituelle Charakter des Stücks, der das Publikum beim Umkreisen des Bühnenraums gemeinschaftlich verbindet – und zugleich, wie in einer Zeremonie, am Tanz der Performer teilhaben lässt. Sie steigern sich im Laufe des Werks immer mehr zu einer dynamischen Gruppe, die sich im Zentrum der Bühne trifft, bevor sie sich wieder unter das wandelnde Publikum einreiht. D
abei wiederholen sie ihre tänzerischen Vokabeln in einer beschwörenden Sprache aus bald einladenden, verführerischen, bald abgrenzenden, schmerzhaften, bald aufzeigenden und ordnenden Bewegungen. Die komplexe elektronische Soundkomposition hat sich inzwischen zu einem Rhythmus gesteigert, der alle vereinnahmt. Bis es still wird und Chollet zu singen beginnt, begleitet auf der Gitarre von Raccuia: „Welchen Zufluchtsort würde ein blinder Mensch für die Liebe in Dunkelheit wählen?“, lässt sich ihr Liedtext umschreiben.
Im mittelalterlichen Mysterienspiel werden biblische Motive und Erzählungen bald mit weltlichen vermischt, um Gnade zu erbitten oder das eigene Verhalten zu hinterfragen sowie das kulturelle Gedächtnis zu pflegen. In „Ouverture“ versucht die Choreografin Chollet an diese Tradition mit zeitgenössischen Mitteln anzudocken. Damit eröffnet sie uns ganz im Sinne des Stücktitels, aber auch des Festivals, einen spannungsreichen Raum, der vielerlei Perspektiven bereithält: eine tänzerische Performance, die es vermag, ähnlich dem Mysterienspiel, ein Geheimnis zu wahren und doch eine Ahnung zu vermitteln.
Ein Klangraum, der in Fleisch und Blut übergeht und den eigenen Körper samt Herzschlag einer rituellen Dynamik verschreibt. Einen Spaziergang ins Dickicht des Selbst, konfrontiert mit den eigenen Mustern der Persönlichkeit. Und schließlich ein Gefühl für Gemeinsinn und Gemeinschaft. „Und Jetzt?“ ist damit 2025 grandios zu Ende gegangen – nicht ohne die Hoffnung zu schüren auf mehr Kunst dieser Art und ein weiteres Festival im nächsten Jahr.
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