Heidelberg. Die Energie, die Disarstar in der ausverkauften Heidelberger Halle02 entfesselt, ist frappierend. Viele seiner Songs entfalten eine soghafte Kraft, scheinen in einem Resonanzraum aus Zerrissenheit und kämpferischer Haltung, hartem Asphalt und empfindsamer Seele zu vibrieren. „Hoffnung und Melancholie“ heißt bezeichnenderweise eines der Stücke, die der Hamburger Hip-Hopper an diesem Abend spielt. Die Tempi der Tracks spielen in Bezug auf ihre Eindrücklichkeit interessanterweise eine untergeordnete Rolle: Die schleppende, Unheil-dräuende Bass-Schwere von „Großraumbüro“ oder die schweißgebadet-schwermütige Phantasmagorie „Saint-Tropez“ besitzen nicht weniger Intensität als eine Überdruck-Nummer wie das vom Publikum lautstark mitskandierte „Rolex für alle“ oder die spannungsgeladene Soziotop-Analyse „Nachbarschaft“. Wobei der Rapper live nicht nur von seinem DJ, sondern auch einem exzellenten Schlagzeuger begleitet wird, was dem elektronischen Sound zusätzlichen Punch und organische Tiefe verleiht.
Rapper Disarstar als Szene-Star zwischen kommerziellem Erfolg und systemkritischen Werten
Der durchtrainierte 31-Jährige, der bürgerlich Gerrit Falius heißt, darf als Ausnahmeerscheinung im bundesrepublikanischen Hip-Hop betrachtet werden. Die Disarstar-Erzählung geht so: Zerrüttete Familie und schwere Kindheit, Inobhutnahme durchs Jugendamt, Konflikt mit dem Gesetz und seinen Hütern, steile antisemitische Text-Schräglagen als jugendlicher Rapper, dann aber nach links weitergegangen und zum Marxisten, Antiimperialisten und Antifaschisten gewandelt. Und auch hier, in der Halle02, hallen die „Siamo tutti antifascisti“-Sprechchöre schon vor Konzertbeginn durch den Saal.
Man kann sich den Musiker mithin als einen Szene-Star im Spagat zwischen kommerziellem Erfolg und systemkritischen Werten vorstellen: Seit seinem fünften Langspieler „Deutscher Oktober“, erschienen 2021, landeten alle seine Alben („Rolex für alle“, die Jugglerz-Kooperation „Overdose“ und das jüngst im August erschienene Werk „Hamburger Aufstand“) in den Top Ten der Charts.
Zwischenzeitlich gab es einen radikalen persönlichen Einschnitt: Anfang vergangenen Jahres wurde Disarstar Vater, zudem hatte er auf seinem Instagram-Account verlautet, eine Tischlerlehre begonnen und „mit Alkohol und co.“ aufgehört zu haben. Er hätte niemals gedacht, eröffnet Disarstar dem Heidelberger Publikum, dass dieses Jahr ein Album herauskommen und er auf Tour gehen würde: „Ich brauchte mal ’ne neue Idee, ’ne neue Perspektive“, aber er habe schnell gemerkt, „dass das gar nicht geht, dass ich ohne die Musik gar nicht kann“.
Was eine glänzende Nachricht für sein Publikum ist, das Disarstar wiederholt dazu animiert, FLINTA-Tanzkreise zu bilden (für Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, transgeschlechtliche und agender Personen); er selbst lässt sich selber nach einem Stage-Diving-Sprung von den Besucherinnen und Besuchern auffangen – und liefert überhaupt eine erstklassige Performance. „Unterm Strich“, sagt er an einer Stelle, nachdem er seiner Frau eine Liebeserklärung bereitet und das Lied „Knife“ gewidmet hat, „bin ich so glücklich wie noch nie zuvor in meinem Leben“. Mit diesem Auftritt dürfte er auch den Glücksgrad seiner Fans signifikant erhöht haben.
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