Mannheim. „Es war einmal eine Stadt namens Berlin, in einem Land, das man Deutschland nannte.“ So beginnen Märchen, aber „Cabaret“ ist kein Märchen. Sondern einer von nur wenigen Musical-Welterfolgen mit einem ernsthaften politischen Hintergrund und einem Plot von geradezu bedrückender Aktualität, auch wenn seine Handlung vor knapp 100 Jahren, gegen Ende der Weimarer Republik spielt.
Regisseur Jens Daryousch Ravari hat in seiner Neuinszenierung des 1966 in New York uraufgeführten Stücks für das Mannheimer Capitol auf plakative Transfers in die Gegenwart verzichtet. Parallelen zu gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen hierzulande arbeitet er dennoch auf das Deutlichste heraus und lässt das Publikum auf die Bühne wie in einen Spiegel blicken. Dabei unterstützen die stringente Handlung, glänzende Darsteller und nicht zuletzt die in deutscher Sprache gesungenen ikonischen Songs von John Kander und Fred Epp.
„Cabaret“
- Mit dem 1966 in New York uraufgeführten Musical „Cabaret“ , nach dem 1972 auch der oscarprämierte Film mit Liza Minnelli entstand, setzt das Capitol Mannheim seine erfolgreiche Tradition an Eigenproduktionen fort.
- Regisseur Jens Ravari inszeniert das in den frühen 1930er-Jahren in Berlin spielende Stück über die bittersüße Romanze einer Nachtclubsängerin mit einem Schriftsteller als Warnung vor Gleichgültigkeit gegenüber zunehmender politischer Radikalisierung.
- In Hauptrollen beeindrucken neben Jennifer Siemann (Sally Bowles) und Sascha Stead (Clifford Bradshaw) auch zwei Stars aus Mannheim: Susan Horn als Fräulein Schneider und Andrea Matthias Pagani als Conférencier.
- Weitere Aufführungen: 24. Oktober, 25. November und 28. Dezember im Capitol, Waldhofstraße 2. Termine für 2026 sind in Planung. Karten zu Preisen von 39 bis 53 Euro gibt es über die Tickethotline 0621/40171420 (Mo., Di. & Sa. 11-14 Uhr) oder per Mail an karten@capitol-mannheim.de.
Und damit „willkommen, bienvenue, welcome“ in einem sehenswerten Musicalerlebnis, das die Erfolgsgeschichte hauseigener Musiktheaterproduktionen des Capitol-Teams fortschreibt und dessen Premiere im vollbesetzten Haus frenetisch bejubelt wurde.
Ein Ensemble zwischen Glanz, Zerrissenheit und politischer Warnung
Joe Masteroff, der das Buch zum Musical basierend auf dem Stück „Ich bin eine Kamera“ von John van Druten und nach Motiven aus dem Roman „Berlin Stories“ des britischen Autors Christopher Isherwood geschrieben hat, verortet das Geschehen in Berlin, wo Weltwirtschaftskrise und Inflation viele Menschen in Not und Armut gestürzt haben. Auch der Nachtclub „Cabaret“ hat schon bessere Zeiten gesehen.
Hier begrüßt im Spelunkenlicht allnächtlich der Conférencier (Andrea Matthias Pagani) die Gäste zum Tanz auf dem Vulkan, hier stürzt sich der gerade in der Stadt angekommene amerikanische Schriftsteller Clifford Bradshaw (Sascha Stead) in eine Affäre mit der Sängerin Sally Bowles (Jennifer Siemann). Auf Empfehlung von Bradshaws Mitreisendem Ernst Ludwig (Tim Stolberg) findet das Paar Unterschlupf in der Pension von Fräulein Schneider (Susan Horn) – ebenso wie deren Verehrer Herr Schulz (Tilman Madaus), der in der Nachbarschaft einen Obst- und Gemüseladen betreibt.
Angetrieben von einer fulminant aufspielenden Band unter der musikalischen Leitung des Wahl-Heidelbergers Marcos Padotzke und flott-frivolen, mitreißend getanzten Choreografien (verantwortlich: Capitol-Produktionsleiterin Doris Marlis) balancieren die Charaktere auf dem schmalen Grat zwischen Lust und Leid, Rausch und Kater, Ahnung und Verdrängung: Cliff fühlt sich nicht nur von Sally, sondern auch von Ernst angezogen, die kann nicht an die große Liebe und ein Leben als Mutter glauben.
Die Verlobungsfeier von Herrn Schulz und Fräulein Schneider am Ende des ersten Akts macht mit einem effektvollen Pausen-Schocker in Form einer riesigen Hakenkreuz-Fahne deutlich, wie machtvoll die Nationalsozialisten bereits sind: Der Schmuggler Ernst Ludwig entpuppt sich als Anhänger der Bewegung, und weil Herr Schulz Jude ist, nimmt Fräulein Schneider doch lieber Abstand von der Heirat.
„Carabet“ punktet mit herausragenden Darstellern und reduzierter, kluger Bühnengestaltung
Bei der Besetzung – die Darsteller wurden aus fast 500 Bewerbungen ausgewählt – hat das Kreativteam um Produzentin Yvonne Geiger und Regisseur Ravari eine äußerst glückliche Hand bewiesen: Der gebürtige Mannheimer Andrea Matthias Pagani gibt den Conférencier charismatisch und stimmgewaltig mit mephistophelischen Zügen und trägt seine immer neuen schillernden Outfits (Kostüme: Sybille Gänßlen-Zeit) ebenso mit Grandezza wie den grauen Anzug im zweiten Akt. Die Berlinerin Jennifer Siemann glänzt in ihrem Rollendebüt als Sally schauspielerisch und gesanglich, vor allem mit dem gefühlvollen „Vielleicht diesmal“ und im Titelsong „Cabaret“. Im erfahrenen Sascha Stead als Cliff findet sie einen ebenbürtigen Partner.
Tilman Madaus spielt den jüdischen Gemüsehändler Herrn Schulze, der nicht glauben mag, dass er in Gefahr ist, auch wenn „Lausbuben“ Steine in sein Obstgeschäft werfen, mit anrührender Hilflosigkeit. Das mit den Nazis werde schon vorbeigehen, ist er sicher: „Ich kenne die Deutschen. Ich bin einer von ihnen.“ Der Star des Abends ist jedoch Susan Horn. Die in der Region verwurzelte Aktrice berlinert auf unwiderstehliche Art singend und tanzend als ältliche Jungfer mit Wasserwelle durch die Szenen, schmachtet im Duett mit Madaus „Die Ananas“ und fragt solo desillusioniert „Wie geht’s weiter?“.
Wiederholt erhält sie Szenenapplaus, wenn sie zwischen Lebensklugheit und Verzagtheit changiert, um schließlich ebenso zur Mitläuferin zu werden wie ihre Mieterin Fräulein Kost (Tina Podstawa), die in „Morgen gehörst du mir“ mit größter Inbrunst das Vaterland besingt und Prostitution als Dienst an ebendiesem versteht.
Wie man mit reduzierten Mitteln und dem klugen Einsatz von Licht ein schlüssiges Bühnenbild gestaltet, zeigen Michel Honold und Paul Hermann: Eine einsam von der Decke baumelnde Lampe zeigt den Ortswechsel vom Nachtclub zur Pension an, und für die Szenen im Zug genügen weiße Dampfwolken. Unter diesen sitzt Clifford Bradshaw am Ende der zweieinhalbstündigen Aufführung (inklusive Pause) neben dem Conférencier Beide lassen sich nicht blenden, sie wissen: Die Party ist vorbei. Das eben noch virtuose Spiel der Band entgleitet, schiefe Töne enden in einem ohrenbetäubenden Trommelwirbel. So klingt es, das Ende der Welt.
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