Heidelberg. Der 1907 erschienene Roman „Le Peuple du Pôle“ des französischen Schriftstellers Charles Derennes (1882 – 1930) ist wie viele seiner Werke in Vergessenheit geraten. Die Heidelberger Romanistin und Übersetzerin Alexandra Beilharz ist überzeugt, dass er auch heute noch lesenswert ist. 2023 hat sie den Flur Verlag gegründet, der sich unter anderem dem Ziel verschrieben hat, vergessene Schätze der Literatur – insbesondere der französischen – auszugraben und dem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen. 2024 erschien dort „Das Porträt“ von Jean de Palacio, jetzt folgt Derennes‘ Roman unter dem Titel „Ungeheuer am Nordpol“. Dieter Meier hat ihn erstmals ins Deutsche übertragen und mit einem Nachwort versehen.
Worum geht es? Der reiche Adelige Jean-Louis de Vénasque und sein Freund Ceintras brechen aus reiner Abenteuerlust auf, einen Erdfleck zu entdecken, auf den noch kein Mensch einen Fuß gesetzt hat. Dafür bauen sie einen genialen Flugapparat, einen Ballon mit Motor, mit dem sie sich zum Nordpol aufmachen und bis tief ins Packeis vordringen. Dort stoßen sie auf das „Volk des Pols“, humanoide, dinosaurierähnliche Ungeheuer, die in unterirdischen Höhlen leben. Die Begegnung ist von gegenseitiger Faszination und Neugier geprägt: Einerseits sind die beiden französischen Abenteurer voller Staunen über diesen bisher unerforschten Volksstamm, der sich den extremen Bedingungen der Arktis angepasst hat und eine eigene Sprache, Kultur und Gesellschaftsordnung besitzt, andererseits voller Angst und Misstrauen. Anders als viele Abenteuerromane jener Zeit endet Derennes‘ Werk nicht in triumphaler Überlegenheit, sondern in einem beklemmenden Bedrohungsszenario, das ambivalent bleibt und nachdenklich stimmt.
Roman weist Züge des späteren Steampunk auf
Der Roman steht in der Tradition von Jules Verne und greift zugleich, wie es etwa auch H.G. Wells unternahm, auf wissenschaftliche Erkenntnisse seiner Zeit zurück. Diese reichen von der Entdeckung des Pithecanthropus über gescheiterte Polar-Expeditionen bis hin zu den Errungenschaften der frühen Luftfahrt. Durch die Beschreibung des raffinierten Luftfahrzeugs, der seltsamen Wesen am Pol, der dortigen ungewöhnlichen Flora und Fauna, der Geräusche und des gespenstischen Lichts, das von allen Seiten einbricht, verortet sich der Roman im Science-Fiction-Genre, weist aber zugleich Züge des späteren sogenannten Steampunk auf.
Gerade diese Mischung aus Realität und Fantasie, aus Abenteuer und wissenschaftlicher Neugier macht den Reiz der Lektüre aus. Philosophische Reflexionen stehen neben poetischen Schilderungen – etwa der eines Polartages –, wobei die kunstvolle Rahmenhandlung den Eindruck von Wirklichkeit, von Authentizität verstärkt. Daher ist „Ungeheuer am Nordpol“ allen zu empfehlen, die nicht nur fesselnde Abenteuer schätzen, sondern sich auch Gedanken machen über ökologische Herausforderungen der modernen Welt, über die Beziehung des Menschen zur Natur, zueinander sowie zum Umgang mit dem Unbekannten, dem Fremden.
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