Hintergrund

Nach MeToo-Vorwürfen: Lässt sich das Debüt von François-Xavier Roth in Mannheim genießen?

Der neue Dirigent des SWR-Symphonieorchesters François-Xavier Roth gibt am Montag sein Debüt in Mannheim. Warum es nicht unumstritten ist.

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Dirigiert am 22. September sein Antrittskonzert in Mannheim: Francois-Xavier Roth, neuer Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters. © picture alliance/dpa

Mannheim. Zunächst: Es ist große Musik, die da heraufzieht. „Die Elemente“ von Jean-Féry Rebel, eine Sinfonie von Luciano Berio und, ach, Schuberts Achte in C-Dur, die „Große“, die nicht enden Wollende. Aber nicht nur auf der Bühne. Auch dahinter, davor und drumherum zieht Großes herauf. Denn der, der da kommt, ist François-Xavier Roth, der neue Mann am Dirigentenpult des SWR Symphonieorchesters.

Feierlich soll und wird er am 22. September im Mannheimer Rosengarten in die übergroßen Fußstapfen treten, die Teodor Currentzis’ etwas militärisch anmutende Stiefel hinterlassen haben (manche sagen, er habe Springerstiefel getragen). Ein Mann, ein Taktstock, ein Orchester: alles wie immer also – wäre da nicht das Raunen, das den Flügelschlag des Beginns begleitet.

Francois-Xavier Roth

  • François-Xavier Roth , 1971 in Neuilly-sur-Seine bei Paris geboren, zählt zu den vielseitigsten und innovativsten Dirigenten seiner Generation. Nach dem Studium am Pariser Konservatorium machte er sich rasch einen Namen sowohl als Dirigent für das klassisch-romantische Repertoire als auch als Spezialist für zeitgenössische Musik.
  • International bekannt wurde Roth als Gründer des Originalklang-Orchesters „Les Siècles“ , mit dem er historische Aufführungspraxis für Musik vom Barock bis zur Moderne verfolgt und vielfach preisgekrönte Einspielungen vorlegte. Ab 2015 ist Roth Chefdirigent des Gürzenich-Orchesters Köln und Generalmusikdirektor der Stadt Köln, daneben stand er unter anderem regelmäßig am Pult von Spitzenorchestern wie dem London Symphony Orchestra und dem SWR Symphonieorchester. Sein Vertrag in Köln wurde nach Bekanntwerden von MeToo-Vorwürfen vorzeitig aufgelöst.
  • Roth ist für seine energiegeladenen, detailgenauen Interpretationen ebenso bekannt wie für seine Neugier gegenüber selten gespieltem Repertoire und seine Fähigkeit, das Publikum für musikalische Experimente zu begeistern.
  • Konzert in Mannheim : Am Montag, 19 Uhr, dirigiert Roth im Rosengarten sein Antrittskonzert beim SWR Symphonieorchester.

Wegen MeToo-Vorwürfen war Roth im vergangenen Jahr in die Kritik geraten. Musikerinnen und Musiker beschuldigten ihn der sexuellen Belästigung per Kurznachrichten inklusive Fotos. Konkret: Roth soll Anzüglichkeiten und sogar sogenannte Dickpics per Mobiltelefon an Orchestermitglieder versendet haben. Infolgedessen wurde sein Vertrag in Köln, wo er als Generalmusikdirektor des Gürzenich-Orchesters wirkte, vorzeitig aufgelöst.

Ganz anders reagierte jedoch der SWR, bei dem Roth wohl schon zuvor einen Vertrag unterschrieben hatte. Roth habe zwar, so sagte es Programmdirektorin Anke Mai im Interview mit dieser Redaktion, „öffentlich zugegeben, intime Nachrichten verschickt zu haben.“ Und er habe sich öffentlich bei allen Betroffenen entschuldigt, so Mai, die auch betonte: Auch dem SWR-Orchester gegenüber habe er diese Verfehlungen eingeräumt.

Dirigent des SWR Symphonieorchsters: Bringer frischen Winds oder Schattenspieler?

Aber: „Wir können in einem Rechtsstaat juristisch nur verurteilen, was entsprechend überprüft worden ist, wo es also eine justiziable Beweislage gibt. Das ist eben bei uns im SWR nicht der Fall.“ Mai spricht für Roth, mit dem Gespräche trotz Anfragen nicht möglich waren.

Mit anderen Worten: Keine der betroffenen Personen hat tatsächlich Anzeige erstattet. Keine Anzeige. Kein Verfahren. Ganz einfach. Aber macht das die Sache besser? Sicher, Roth ist ein Dirigent von internationalem Rang, ein musikalischer Spürhund, akribisch, detailverliebt, neugierig auf Neues und doch mit dem Händchen für Altes – ein Dirigent des 21. Jahrhunderts und eigentlich ein Glücksfall für den SWR, der auch von Glanz und Glamour großer Namen gern benebelt wird.

Roth, der Klanggestalter, der aus dem Gewöhnlichen das Außergewöhnliche macht, ist gekommen, um einen frischen Wind zu bringen und die musikalische Erbmasse neu zu beatmen. Aber ist das nach Teodor Currentzis noch möglich, der das Orchester in ungeahnte und, ja, radikale Höhen führte?

SWR Symphonieorchster: Ein Orchester im Rampenlicht, nicht der Dirigent

Man wird es erleben. Doch Roths Anfang wohnt jetzt schon kein echter Zauber mehr inne, sondern menschlicher Makel, Empörung und moralische Anfechtbarkeit. War es mutig vom SWR, zu ihm zu halten? Geht man den schwierigen Weg mit Roth statt den leichten (aber möglicherweise sehr teuren) ohne ihn?

Dass der SWR nicht ganz unsensibel reagiert, konnte man an der Werbekampagne im Sommer sehen. Nicht mit dem Konterfei François-Xavier Roth wurde die neue Mannheimer Saison beworben, sondern mit den Musikerinnen und Musikern des Orchesters. Der Star: das Team. Der Maestro: Den gibt es halt auch noch. Erst in den vergangenen Wochen hat man ihn an den Säulen entdeckt. Dezent.

Es ist in diesen politisch korrekten Zeiten fast schon normal, dass debattiert, gestritten und gehadert wird. Das Scheinwerferlicht der Bühne, des Podiums, der Rampe – das sind prädestinierte Orte dafür. Hier treffen sich seit Urzeiten Glanz und Gerücht, Genialität und Getuschel. Und übrigens: Roths Vorgänger Teodor Currentzis – war das nicht auch einer, der Poltern und Stolpern mit ins Amt brachte?

Currentzis, der Sprengmeister alter Orchesterhierarchien, der Heilige und Häretiker im selben Atemzug, der Zerstreuer und Polarisierer. Sein Name, verzwirbelt mit russischen Geldflüssen und politisch klammen Bekenntnissen, war ebenfalls immer ein Anlass für Entrüstungsstürme. Die Frage ist: Darf, kann, muss Musik ethisch gereinigt daherkommen? Spielt die Moral im Rhythmus des Taktstocks?

Francois-Xavier Roth dirigiert das SWR Symphonieorchester im Mai im Festspielhaus Baden-Baden. © SWR/Andrea Kremper

Egal. Am Montag wird Roth dirigieren, das Orchester wird blasen, zupfen, rühren und trommeln, aber wie die Musiker – und vor allem die Musikerinnen – sich dabei fühlen, wenn da einer vor ihnen steht mit dieser unfeinen Vergangenheit, das wird die Öffentlichkeit wohl nie erfahren?

Eine Musikerin in Mannheim sagte auf Anfrage nur: „Wahrscheinlich hätte ich doch erhebliche Schwierigkeiten, ihn als Chef zu akzeptieren.“ Möglicherweise aber gibt es ein Stadium der Professionalität, der es den Musizierenden erlaubt, alles außerhalb der Musik ausblenden und den Fokus rein auf die Musik richten zu können. Es wäre, da die Sache nun mal ist, wie sie ist, dem Orchester zu wünschen.

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Aber gerade ein über (Zwangs)-Gebühren finanziertes Orchester ist nicht für sich selbst da. Und außerhalb des Dunstkreises gibt es Menschen, die wegen der ganzen Sache ihre Abonnements beim SWR gekündigt haben. Andere wollen zwar noch zum SWR Symphonieorchester gehen, aber nur, wenn Roth selbst nicht dirigiert. Das ist eine harte Bürde für ein Orchester in Zeiten, in denen der Satz „Kultur für alle“ in aller Munde ist.

Musik schafft Rausch- und Rettungsräume, sie kann betören, bestürzen und befreien. Jeder Ton wird am Montag dreimal gehört, jede Geste dreimal überprüft werden. Die Causa könnte zum Prüfstein einer neuen Kultur des Umgangs mit Verdacht und Vorwurf werden. Kein Künstler mehr, der nur Künstler sein darf – sondern auch Verdachtsfigur, Behelfsjurist und Opfer einer Zeit, die nicht mehr verzeiht, sondern vorverurteilt. Es bleiben Fragen. Auch: Wird es Proteste geben? Und muss ich mich schämen, wenn ich am Ende Beifall klatsche?

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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