Das Wichtigste in Kürze
- Der Dirigent François-Xavier Roth wird trotz #MeToo-Vorwürfen Chef des SWR Symphonieorchesters.
- Die SWR-Programmdirektorin Anke Mai verteidigt die Entscheidung, Roth weiter zu beschäftigen.
- Das Antrittskonzert findet im September in Mannheim statt.
Stuttgart/Mannheim. Es ist alles andere als ein Anfang nach Maß: Noch im Mai 2024 war der Dirigent François-Xavier Roth aufgrund von #MeToo-Vorwürfen in die Kritik geraten. Dennoch hielt der SWR nach Auswertung einer internen Prüfungskommission am designierten Leiter des SWR Symphonieorchesters fest. Im Dezember 2024 hat die Staatsanwaltschaft Köln die Ermittlungen eingestellt. Im September macht Roth nun seine Antrittskonzerte – auch in Mannheim. Diejenige, die die Entscheidung, zu Roth zu stehen, maßgeblich mitgetragen hat, ist Programmdirektorin Anke Mai – ein Interview.
Frau Mai, im September findet das Antrittskonzert von François-Xavier Roth als Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters statt. Werden Sie dabei sein?
Anke Mai: Ja, klar.
Damit geht eine lange Phase der Unsicherheit zu Ende. Im Dezember 2024 hatte die Staatsanwaltschaft Köln die Ermittlungen gegen Roth wegen sexueller Belästigung im Gürzenich-Orchester eingestellt, und auch Ihre sendereigene Untersuchungskommission fand keine Beschwerden. Von außen betrachtet reibt man sich da schon etwas verwundert die Augen. Verstehen Sie das?
Mai: Natürlich verstehe ich das. Ich kann da auch jeden, der Kritik übt, verstehen. Das muss jeder mit sich selbst ausmachen und mit seinem Wertesystem abgleichen. Aber blicken wir auf den Anfang: Da waren Vorwürfe, die teils auf Hörensagen beruhten. Und wir können in einem Rechtsstaat juristisch nur verurteilen, was entsprechend überprüft worden ist, wo es also eine justiziable Beweislage gibt. Das ist eben bei uns im SWR nicht der Fall.
Und offensichtlich hatte auch beim Gürzenich-Orchester niemand den Mut, die Sachen justiziabel darzulegen. Wobei es auch bei Ihnen wohl kaum Zweifel geben dürfte, dass es sexuell belästigende Textnachrichten und Bilder gegeben hat, oder?
Mai: Roth hat öffentlich zugegeben, intime Nachrichten verschickt zu haben. Und dafür hat er sich ebenfalls öffentlich bei allen Betroffenen entschuldigt. Auch dem Orchester gegenüber hat er diese Verfehlungen eingeräumt. Es geht dann aber auch um die Frage: Ist das von den Musikerinnen und Musikern als unangemessen eingestuft worden, haben sie sich offiziell beschwert? Diese offiziellen Beschwerden hat es nicht gegeben.
Sie sprechen vom SWR.
Mai: Genau. Mir ist bewusst, dass es eine große Portion Mut braucht, ein solches Vergehen zu melden und das nehme ich sehr ernst. Genau aus diesem Grund haben wir mehrfach dazu aufgerufen, sich zu melden – im geschützten Raum. Es war somit wirklich in der Hand der Kolleginnen und Kollegen, wenn sie sich in irgendeiner Form sexuell belästigt oder diskriminiert gefühlt hätten, dieses kundzutun und sich an die zuständigen Stellen zu wenden. Das hat es nicht gegeben.
Der größte Aufreger waren natürlich die Fotos mit seinem Geschlechtsteil, von denen gesprochen wurde. Gab es die, oder gab es sie nicht?
Mai: Wir haben keine offizielle Beschwerde darüber.
Wie wird das Orchester nun vor Roth sitzen? Dort hatte sich ja doch immerhin eine Front von 48 Stimmen formiert, die Ihre Entscheidung, an Roth festzuhalten, nicht gut fand. Da ist doch auch ein gewisser Schaden an Vertrauen entstanden. Ist sowas reparabel?
Mai: Ich hoffe sehr, dass das Vertrauen wiederhergestellt werden kann. Die Kritik der 48 Orchestermitglieder richtete sich vor allem darauf, dass wir angeblich nur den Orchestervorstand und nicht das gesamte Orchester einbezogen hätten. Tatsächlich haben wir mit dem Orchestervorstand gesprochen, aber die Entscheidung, Roth weiter zu beschäftigen, wurde vom Orchestermanagement, dem Intendanten und mir getroffen, ohne Abstimmung im Orchester. Das Orchester war informiert, aber nicht direkt beteiligt, um eine Spaltung zu vermeiden, da die Meinungen sehr unterschiedlich sind. Wir haben das offen kommuniziert und klargestellt, dass wir die Verantwortung tragen. Unterschiedliche Ansichten im Orchester sind legitim, und wir gehen damit offen um.
Ich zähle mal auf: die Fusion der beiden Orchester in Baden-Baden und Stuttgart vor neun Jahren, dann der umstrittene Dirigent Teodor Currentzis, jetzt die Causa, François-Xavier Roth. Wie viele schlechte Schlagzeilen verträgt eigentlich ein Orchester?
Mai: Weder die Querelen um Teodor Currentzis noch die um François-Xavier Roth waren geplant, beide Entwicklungen sind für das Orchester bedauerlich. Zu Beginn mit Currentzis herrschte große Begeisterung, später gab es Kritik – weniger an seiner Kunst, sondern an seiner politischen Haltung. Auch Roth wurde zunächst positiv aufgenommen, bis die Vorwürfe Schlagzeilen machten. Das Orchester hat durch die Fusion bewiesen, wie stabil und belastbar es ist. Sollte es Unmutsäußerungen geben, richten sie sich gegen Roth persönlich, nicht gegen das Orchester. Natürlich sind solche Situationen belastend, aber wir müssen im Sinne unseres Wertekanons auch aushalten, dass Menschen Fehler machen und sich ändern können. Sexuelle Belästigung und Diskriminierung tolerieren wir nicht, aber wir glauben an die Möglichkeit einer zweiten Chance. Im Mittelpunkt steht für uns immer die Musik und die künstlerische Leistung des Orchesters.
Können bei diesen Vorzeichen noch Höchstleistungen abgerufen werden, die ja ein besonderes Momentum verlangen, in dem alles stimmt?
Mai: Ich glaube fest daran, das ist auch, was ich spüre und höre. Das wird möglicherweise am Anfang ein bisschen überschattet sein, damit rechnen wir auch. Aber alle Gespräche, die ich bisher geführt habe, sind die, dass alle an der Kunst festhalten und dass sie davon überzeugt sind, dass sie ein starker, hochleistungsfähiger Klangkörper sind. Ich will das jetzt überhaupt nicht kleinreden, aber, dass ein Klangkörper zu 100 Prozent hinter dem Chefdirigenten steht, ist die Ausnahme. Es gibt immer Kritik. Das ist jetzt eine andere Situation, da haben Sie recht. Ich gehe aber davon aus, dass das Symphonieorchester das schafft.
Ich als Journalist stelle mir die Zwänge bei Ihnen im Sender sehr massiv vor und versuche zu verstehen, warum man agiert, wie es der SWR getan hat. Umgekehrt: Sie sind selbst Journalistin gewesen. Können Sie die Perspektive tauschen und als Kritikerin aufs eigene Handeln blicken?
Mai: Absolut, ich kann mein eigenes Handeln durchaus kritisch reflektieren. Es gab zu keinem Zeitpunkt eine feste Vorgabe oder Doktrin, wie wir im Fall Roth vorgehen sollen. Wir haben unsere Entscheidungen immer wieder überprüft, auch ich selbst habe mich kritisch hinterfragt. Wichtig ist für mich, dass ich mein Handeln vor mir selbst verantworten kann und abwäge, welchen Schaden wir mit welcher Entscheidung anrichten könnten. Auch unsere Kontrollgremien wie Rundfunkrat und Programmausschuss Kultur hinterfragen regelmäßig unser Vorgehen. Es ging uns nie darum, einfach „Augen zu und durch“ zu machen oder den bequemsten Weg zu wählen. Im Gegenteil: Wir haben bewusst den schwierigeren Weg gewählt, weil wir überzeugt sind, dass er richtig ist – auch wenn dies zu negativen Schlagzeilen geführt hat. Wir hätten uns das leichter machen und die öffentliche Kritik vermeiden können, aber das wäre nicht verantwortungsvoll gewesen.
Mal abgesehen von der Öffentlichkeit, die meistens von Journalisten informiert wird. Welche Reaktionen bekommen Sie eigentlich vom Publikum, von Ihren Abonnentinnen und Abonnenten?
Mai: Tatsächlich haben einige ihr Abonnement gekündigt. Genau so viele sagen aber: Ihr habt richtig gehandelt, jetzt schließen wir ein Abonnement ab. Und wie gesagt: Da ich das vor mir selbst verantworten muss, verstehe ich auch, dass andere das nicht mittragen können.
Was genau müsste jetzt passieren, damit es zu einem Eklat kommt, was wohl eher unwahrscheinlich ist, weil Roth ja weiß, dass er unter besonderer Beobachtung steht?
Mai: Ich gehe nicht davon aus, dass etwas passiert. Sollte etwas passieren, dann ist das auch kein Eklat, sondern dann haben wir dafür Maßnahmen getroffen. Alle Beteiligten sind über alle Wege informiert, an wen sie sich wenden können. Das war vor Mai 2024 offenbar nicht ausreichend kommuniziert. Auch im Orchester waren nicht alle Wege klar. Wir haben das einfach nochmal ganz deutlich gemacht: Wenn ihr eine Erfahrung macht, wenn ihr das Empfinden habt, ich muss das jemandem melden, dann gibt es diese Wege. Und diese Wege sind klar beschrieben.
Mai, Roth und die Mannheimer Konzerte
- Anke Mai: Anke Mai, geboren 1965 in Karlsruhe, ist eine erfahrene Journalistin, die unter anderem als ARD-Korrespondentin aus Südosteuropa und dem Hauptstadtstudio berichtete und mehrfach ausgezeichnet wurde (u. a. Kurt-Magnus-Preis, Robert Geisendörfer Preis). Sie leitete ab 2007 die zentrale Planung und Koordination Hörfunk beim BR und war ab 2016 für den medienübergreifenden Programmbereich Kultur verantwortlich. Seit Februar 2020 ist sie Programmdirektorin Kultur, Wissen, Junge Formate beim SWR.
- Francois-Xavier Roth: François-Xavier Roth, in Paris geboren, ist seit 2015 Generalmusikdirektor in Köln (Gürzenich-Orchester und Oper Köln) und Erster Gastdirigent beim London Symphony Orchestra. 2003 gründete er das Ensemble Les Siècles, das innovative Programme auf modernen und historischen Instrumenten aufführt und mit dem er unter anderem die Fernsehserie „Presto!“ sowie das Jeune Orchestre Européen Hector Berlioz ins Leben rief. Für seine Verdienste wurde Roth mit dem Ehrenpreis der Deutschen Schallplattenkritik und dem Rittertitel der französischen Ehrenlegion ausgezeichnet.
- SWR Orchester in Mannheim: 22.09., 13.12., 15.03.26 (nur für U26), 22.03.26, 20.07.26.
- Info: swrticketservice.de
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