Heidelberg. Dank Vincent Peirani tritt das Akkordeon konsequent aus dem Schatten des Volkstümlichen heraus, den es zumindest in unseren Breitengraden traditionell besitzt. Das Instrument für den Jazz produktiv gemacht zu haben, ist zweifellos das Verdienst des französischen Musikers und Komponisten, der im bis auf den letzten Stuhl besetzten Heidelberger Karlstorbahnhof dank seiner bescheiden wirkenden und freundlichen Art sofort den Kontakt zu seinem Publikum findet. Peirani tritt barfuß auf die von Kunstnebel umwaberte Bühne, was sowohl auf das Bedürfnis nach unmittelbarer Verbindung schließen lässt als auch auf eine gewisse Bereitschaft, sich verletzlich zu zeigen.
Die Stücke, die der Akkordeonist in diesem Jazz-Quintett präsentiert, stammen größtenteils aus dem aktuellen Album „Time Reflection“, das soeben als vierte Folge einer Serie unter dem Titel „Living Being“ erschienen ist. Es mögen künstlerische Reisen durch Seelengefilde und Gegenwartslandschaften sein, auf die Peirani seine gebannt lauschenden Hörerinnen und Hörer mitnimmt. Zugleich verraten die weit gespannten, epischen Arrangements eine an Barock, Klassik, Pop und Rock geschulte Fantasie, die sich jeder Festlegung auf ein bestimmtes Genre entzieht.
Vincent Peirani bei Enjoy Jazz in Heidelberg: Solistische Passagen mit überragender Technik gespielt
Pflegt die Band soeben noch einen entspannten, sanft dahin tuckernden Wohlfühlsound, signalisieren vor allem Émile Parisien (Sopransaxofon) und Tony Paeleman an Fender Rhodes und Flügel auf ihren improvisatorischen Alleingängen vorherrschende Neigungen zum Jazz. Und hat man sich gerade davon überzeugt, bricht die Musik zu einem der ekstatischen Exkurse ins Rockmilieu auf. Die zuweilen gefällige Popfassade bekommt Risse, wenn der meist eher introvertiert wirkende und mit überschlagenen Beinen auf seinem Stuhl kauernde Saxofonist endlich einmal seinen Sitz wegschiebt und den Sound mit gellenden Überschlägen nach vorne treibt. Yoann Serra geht, obwohl er äußerst perkussiv spielt, gerne auch die robustere Gangart mit, und Julien Herné ist am E-Bass gelegentlich ein Filigranarbeiter, der am Ende genüsslich-funkig das Bassmotiv von Bowie-Mercurys „Under Pressure“ in die Saiten zupft.
Über weite Strecken lässt sich im Karlstorbahnhof ein transparenter und ausgewogen abgemischter Sound erleben, der vor allem den elegischen Arrangements gut steht. Auch die komplexeren Passagen bleiben durchhörbar, selbst wenn die Band gelegentlich mächtig Druck auf die soeben noch weich gespülten Gehörgänge macht. Doch zur Versöhnung entfaltet Tony Paeleman lyrischen Klangsinn am teilweise präparierten Flügel und demonstriert, wie sich aus unscheinbaren Intervallen ganze Balladen stricken lassen.
Sein Akkordeon setzt Vincent Peirani durchaus nicht nur solistisch ein. Es ordnet sich meist dem Ensembleklang unter und gibt ihm dank seiner orchestralen, klanglichen Fähigkeiten Stütze. Doch in einem seiner solistischen Passagen setzt der Musiker sein Instrument dank seiner überragenden technischen Beherrschung auf eine Weise in Szene, die dokumentiert, dass sein Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft scheint. Würde Peirani jetzt einfach alleine weiterspielen, wäre ihm geballte Aufmerksamkeit sicher.
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