Mannheim. Eifersucht ist eine Eigenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft. Als Gefühl hat sie in Privathaushalten wie auf der Theaterbühne unendlich viele dramatische Szenen zu verantworten. Sie ist gefährlich für andere und vor allem selbstzerstörerisch für den Süchtigen. Besonders treibend wird sie – so will es ein exotistisches Klischee im alten Europa – im wilden Süden, das für den deutschen Minnesang wie auch für die Franzosen Prosper Mérimée und Georges Bizet bereits jenseits der Pyrenäen begann.
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Dieser bürgerlichen Schaulust auf heißblütige wie grenzüberschreitende Emotion widmeten erst der Dichter (1845), dann der Komponist (1875) ein Werk, das – neben Verdis „Aida“ oder Puccinis „Madame Butterfly“ für seinen Reichtum an Kolorit berühmt ist wie kein anderes: „Carmen“ – eine Frau wie Donnerhall: verführerisch, selbstbestimmt, egozentrisch, kokett, frivol, unberechenbar und eben auch deshalb unwiderstehlich. Nicht nur Literatur und Oper, auch Schauspiele, zahlreiche Ballette und die spanische Tourismusindustrie saugen bis heute Nektar aus ihrem schönen wie widerspenstigen Kunstfigurenleib.
Doch wer denkt an den männlichen Protagonisten? Den rezeptionsgeschichtlich eher blassen, kleinbürgerlichen Feldwebel Don José, der alles zerstört und aufgibt, woran er glaubte, zum Deserteur, Schmuggler gar Mörder wird? Stephan Thoss, Tanzintendant am Mannheimer Nationaltheater, hat es getan und mit „Don José“ einen fulminanten, großen Theaterabend auf die kleine Bühne des Tanzhauses Käfertal gestellt, der das Opernhaus hätte füllen können, stünde es derzeit zur Verfügung.
Musikalisch setzt Thoss dabei nicht auf Bizet selbst, sondern auf Rodion Schtschedrins „Carmen-Suite“ (1968). Eine gute Wahl, war der russische Komponist bis zu deren Tod 2015 doch Gatte der legendären Bolschoi-Primaballerina Maya Plissezkaja. Er hat der Opernvorlage also viel tanzbare Rhythmen jenseits von Volkstanzelementen eingeschrieben, von denen nun auch das 16-köpfige NTM-Tanzensemble profitiert.
Ein Abend für Joseph Caldo
Im Zentrum steht der sich seiner unheldischen Zurückhaltung wegen als Idealbesetzung beweisende Joseph Caldo, die hier neben tänzerischem Können und notwendiger Feinfühligkeit eben auch der kongenialen Charakterzeichnung seines Don José dient. Er steht zwischen allen Fronten und unterliegt in Thoss’ Sicht weniger einer rein erotischen Versuchung als vielmehr dem inneren Kampf zwischen sozialer Vernunft und Lust an der Grenzüberschreitung.
Befeuert wird die innere Zerrissenheit von Engelchen und Teufelchen, die der Choreograph als „eine positive Kraft“ und „eine negative Kraft“ seinem José auf die Schulter gesetzt hat. Lorenzo Angelini, dieser wohlwollende Schelm und Sommernachtstraum-Puck, hat seinen Widerpart im viril-maliziösen Luis Tena Torres gefunden, mit dem er um die Handlungsoptionen Josés kämpft. Eindringlich sind daher sowohl die Pas de trois des Protagonisten mit Gut und Böse, als auch die vielschichtigen Pas de deux, in denen sie um die Gunst des Antihelden buhlen. Interessant dabei ist, dass Thoss hier nicht in langweilige Schwarz-Weiß-Muster verfällt, sondern auch der dunklen Seite der Macht Wohlfühlbegegnungen einschreibt. Alexandra Chloe Samion gibt mit Gewaltverzichtsappellen und emotionaler Festigung als Mutter (und einer Prise treuherzige Micaëla) ebenfalls ihr Bestes, während Jessica Lu als „Dämon/(Alb)Traum/Negative Kraft der Liebe“ nun wieder am anderen Ende des Mannes zieht.
Last und Überfrachtung
Spätestens hier ist zu merken, dass dieses dramaturgische Konzept stellenweise stark überfrachtet ist. Selbst wer Novelle und Oper gut kennt, wird bei den Geschehnissen dieses „Handlungsballetts“ einige Zuordnungsschwierigkeiten haben – zumal auch sechs Doubles in feuerroten Anzügen die starke Carmen von Paloma Galiana Moscardó und gleich vier Doubles den Escamillo verstärken. Zur Pause hin kippt die Konzentration in Szene und Choreographie daher in ein „Zu-viel-von-Allem“. Musikalisch aufgeladen durch Bela Bartok, Techno, Celesta, Röhrenglocken und und und ...
Am stärksten ist der Abend in den fein gearbeiteten Zweierszenen: Wenn die Begegnungen von Carmen und Don José kantiger, spröder, ja unmöglich werden. Wenn José unter der Last seelischer Ausnahmezustände buchstäblich zu Boden geht. Wenn Caldo mit dem herausragendsten Escamillo (Emma Kate Tilson) eine fast zärtliche Szene auf dem Sofa (Bühne und Kostüm ebnfalls Stephan Thoss) hat.
Gleichwohl bietet der inklusive Pause glatt zweistündige Abend exzellenten Tanz – und große Oper, auch wenn die Liebe hier keine bunten Flügel hat…
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