Es gibt viele Möglichkeiten, dem Verschwinden eines sanierungsbedürftigen Theaters aus der öffentlichen Wahrnehmung zu begegnen. Man kann sich eine Pandemiekrise lang wegducken und hinterher auflisten, was man angeblich alles getan hat, was dann aber letztlich doch nur aggressiv gepredigte Zahlenzauberei war, die verdiente und theaterfreundliche Gemeinderäte zum Schweigen brachte. Man kann dann millionenhohe Ansprüche an Ersatzspielstättenforderungen knüpfen. Man kann sich zuvörderst das Gehalt erhöhen. Man kann hoffen, dass scheidende Ober- und Kulturbürgermeister weiterhin alles durch einen kulturell sedierten Gemeinderat winken. Man kann tiefe Betroffenheit und das Beteuern der Schuldlosigkeit daran zum opernhaften Prinzip machen und Sänger und Musiker spazieren schicken. Man kann im geschützten Dramaturgenbiotop mit endlosen Diskurskleinformaten gesellschaftliche Relevanz behaupten und schauspielerisch einfach wegbleiben.
Die glanzvolle Ausnahme
Man kann der Sache aber auch entgegenwirken und in einer dafür eigentlich wenig geeigneten vorörtlichen Industrieblechhalle großes Weihnachtsstaatstheater machen, ganz so, als wäre das Tanzhaus Käfertal die Dresdner Semperoper.
Diesen Weg geht NTM-Tanzchef Stephan Thoss (noch dazu an seinem 57. Geburtstag) vorweihnachtlich mit der munter beklatschten Premiere „Nüsseknacker“.
Tschaikowskys märchenhafter „Nussknacker“ lässt längst große Räume für Interpretation. Stephan Thoss färbt ihn für das Nationaltheater pädagogisch ein. Schöne Bescherung: Marie, das Kind des Hauses (quirlig und in jeder Sekunde tänzerisch wie schauspielerisch präsent: Jessica Liu), ist bockig und wenig zufrieden mit den Weihnachtsgaben der Eltern (Emma Kate Tilson und Leonardo Cheng). Sie pfeffert Puppe und Nussknacker direkt vom Gabentisch in die Stubenecke, wo Christbaum und Kaminfeuer festlich um die Wette leuchten. Illustre Gäste tanzen und turnen in einer aufwendigen Fülle von Kostümen (Stephan Thoss und Romy Liebig) über die Festtafel.
Später, wenn Marie zur Strafe ins Bett geschickt wird und drei „Rattenknacker“ (kraftvoll und mit Spielfreude: Lorenzo Terzo, Alexandra Chloe Sammion und Joseph Caldo) die nächtliche Regentschaft übernehmen, wird die choreographische Absicht nicht minder deutlich: ausladend und impulsiv, nicht selten akrobatisch unterlegt – als wäre es eine Dreißig-Meter-Bühne.
Musikalisch erklingt zu alldem freilich Tschaikowsky, wenn auch in buntgewürfelter Reihenfolge und durchsetzt mit Dornröschen oder Henri Duparcs „Léonore“.
Star des Abends ist (neben Jessica Liu) freilich Albert Galindo, dessen elegante Charakterdarstellung des Onkel Drosselmeier selbst den Titelhelden (Lorenzo Angelini) und den Mäusekönig (Luis Tena Torres) auf die (guten) Ränge verweist. In der bunten Welt der Marmeladenburg, nach einigen märchenhaft Abenteuern heilt Marie die verletzten und zuvor verstoßenen Spielkameraden Nussknacker und Puppe/Prinzessin Pirlipat (Dora Stepusin) quasi durch Wertschätzung und Versöhnung. Das ist ein bisschen dick, auch die zusätzlich eingebauten Loriot-Reminiszenzen, die es für das Publikum zu erraten gilt, sind zuviel des Guten.
Praller Griff in die Theaterkiste
Das Ganze ist im wörtlichen wie im übertragenen Sinne „überchoreographiert“, aber eben „ein weihnachtliches Tanzstück für die ganze Familie“. Auf dem weihnachtlichen Premierenpullover des Tanzintendanten steht „Nüsse knacken“. Es ist ihm und den NTM-Gewerken gelungen, in eine langweilige Halle ohne Unter- und Obermaschinerie, ohne Züge, Drehbühne oder für Ersatzspielstätten ähnlich „Unverzichtbares“ einen prallen, märchenhaften Theaterabend zu zaubern – nur mit Licht (Wolfgang Schüle) und Leistung. Freilich im Verbund mit Requisite, Kostüm, Möblern und blitzschnellen Kulissenschiebern (bravo!): So analog und sinnlich kann Theater sein. Zu solch quietschbunten Ranschmeißern sind sich manche zu fein. Der mutige Mann der Stunde heißt Stephan Thoss. Alle sieben Vorstellungen bis Weihnachten sind bereits ausverkauft. Dazu muss man ihm gratulieren – zum Geburtstag freilich auch, und das besonders herzlich.
Vorlage und Klassiker: „Der Nussknacker“
Das von Peter Ijlitsch Tschaikowsky komponierte zweiaktige Märchenballett wurde 1892 am Mariinski-Theater in Sankt Petersburg von Lew Iwanow uraufgeführt.
Sein (bereits damals als eher schwach eingeschätztes) Libretto basiert auf der von Alexandre Dumas (Vater) 1845 bearbeiteten Version des 1816 von E. T. A. Hoffmann verfassten Märchens „Nussknacker und Mäusekönig“.
Kaum ein großer Choreograph kam an dem vielfach umgearbeiteten und versionenreichen Stück vorbei: Fedor Lopuchow (1928), George Balanchine (1954), Rudolf Nurejew (1963,1988), John Neumeier (1971) oder Heinz Spoerli (1980). rcl
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