Mannheim. Dass der Untergang des Römischen Reichs und vielleicht ja auch der Welt überhaupt an den Goetheplatz verlegt worden ist, hat sich wohl auch in Stuttgart herumgesprochen. Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist da und sieht zusammen mit Mannheims Oberbürgermeister Peter Kurz von der Intendantenloge aus zu, wie bei einer spektakulären Wasserschlacht auf den Brettern des Nationaltheaters (NTM) alles, wirklich alles den Bach runtergeht. Die Macht. Die Tugend. Die Menschlichkeit. Und eben auch die Empathie.
Und das kühle Ende ist hier nach fast vier Stunden Musiktheater doppelt niederschmetternd. Die radikal Liebenden und brutal Herrschenden erreichen zwar ihr Ziel. Doch inmitten der Wassermassen mit einer venezianischen Gondel bemerken sie, beide nackt, plötzlich eine grenzenlose Einsamkeit in der Zweisamkeit, eine eiskalte Entfremdung, die inmitten des letzten, unfassbar schönen Duetts „Pur ti miro“ von Nero und Poppea unwirklich erscheint wie in einem Film Peter Greenaways.
Gegenpol zum „Odysseus“
Dass die beiden nur Spielbälle der Liebe waren, die sie in einer Amour fou zu sexbesessenen, perversen und psychopathischen Menschen machte, erkennen sie erst jetzt – und rächen sich mit Amors Tod.
Harter Tobak ist das schon. Aber was für einer! Regisseur Lorenzo Fioroni, Paul Zoller (Bühne) und Sabine Blickenstorfer (Kostüme) gelingt mit Monteverdis „Krönung der Poppea“ ein bildmächtiger, unter die Haut gehender Abend, der den Monteverdi-Zyklus heterogen weiterführt und einen Gegenpol zum reduzierten „Odysseus“ bildet. Ein langer Abend, sicher. Aber einer, der sich anbahnt und wie eine Schraube immer tiefer in unsere Eingeweide bohrt. Fioroni legt die Handlung ins Venedig der Entstehungszeit. Gondeln geistern über die Bühne, Halskrausen verstellen Blicke ins Weite. Die Aufklärung ist weit. Der Aberglaube hautnah.
Doch immer wieder bricht Fioroni bedingungslos aus dieser Welt aus. Ganz der Theorie folgend, alles existiere gleichzeitig, blicken wir aus der Gegenwart zurück in die Zukunft. Heroinspritzende Mädchen und blutverschmierte „Tatort“-Pathologen treffen auf Renaissance und Antike, Splattermovie (Senecas Tod) auf die heiligen Gebete der betrogenen Ottavia vorm Kreuz. Die Atmosphäre: morbid. Die Bilder: überwältigend. Die Musik: zum Dahinschmelzen. Was wieder mal dem Gastorchester Il Gusto Barocco unter Jörg Halubek zu danken ist, das sensibel, klangschön, überraschend, differenziert spielt.
Und wie politisch dieses Werk ist, kehrt Regisseur Fioroni exzellent hervor: Wie Nero vollkommen sinnfrei alle herrschenden Strukturen niederreißt, ohne zu fragen, ob sie Sinn hatten, wie er alle Gegner ausschaltet und herrscht wie ein Wilder – es erinnert an manchen Machthaber und mahnt: Nero war der letzte Kaiser der julisch-claudischen Dynastie. Nach ihm war nichts mehr, wie es gewesen war. Es war alles nur noch schlimmer.
Nur wenige Gastsänger
Dass die Produktion mit nur wenigen Gastsängern auskommt, ist erstaunlich. Mit Countertenor Terry Wey (Ottone), dem exzellent singenden Knaben Fridolin Bosse (Amor) und Magnus Staveland (Nero) sind sie im Wesentlichen genannt. Stavelands Nero ist stark gezeichnet. Seinem Tenor entlockt er viele Farben, und die Wandlung des Liebenden zum weltfremden Geistesgestörten ohne Fähigkeit zu Selbstbespiegelung stellt er grandios dar. Sein Nero ist ein Fall der sogenannten dunklen Triade, die narzisstische, machiavelistische und psychopathische Merkmale koppelt. Ihm zur Seite planscht, kuschelt und knutscht die fast immer (im Neoprenanzug) nackte Nikola Hillebrand als Poppea. Sie geizt nicht mit weiblichen Reizen, ihr Spiel, ihr Gesang und das ganze Auftreten sind großartig. Zwar wünscht man sich bisweilen etwas mehr Ruhe in der Stimme, aber unter dem Strich ist die junge Sopranistin einfach überwältigend. Auch Marie-Belle Sandis hat den Monteverdi-Gesang für sich entdeckt. Viel heller als ihre Penelope klingt die Ottavia, klarer, purer und schöner, ein toller Erfolg für die Mezzospranistin. Bartosz Urbanoviczs lebt als Seneca zwar nur kurz, aber intensiv. Sein Bass entwickelt sich zu einem echten Gewicht im NTM-Ensemble. Auffallend: die Drusilla von Amelia Scicolone. Die kleine Partie meistert sie mit feinen Tönen und intensivem Spiel. Auch Uwe Eikötter (Arnalta) und Maria Markina (Fortuna/Damigella) fallen im Rahmen der 15 Sänger auf der Bühne sehr positiv auf. Der Alphabetchor bringt viele Klangfarben auf die Bühne, und überhaupt klingt Monteverdi – ja – verzaubernd und verstörend. Il Gusto Barocco sei Dank.
Der Saal tobt fast eine Viertel Stunde lang. Zuerst der messerscharfe „Odysseus“ 2017, jetzt die überwältigende „Poppea“. Dieser Monteverdi-Zyklus dürfte bald Kultstatus haben. Das dürfte sich auch in Stuttgart herumsprechen. Dank Kretschmann.
„Poppea“ am Nationaltheater
- Werk: „L’incoronazione di Poppea“ (Die Krönung der Poppea) ist Claudio Monteverdis letzte Oper. Sie wurde 1643 in Venedig uraufgeführt. Wenige Monate später starb Monteverdi.
- Handlung: Kaiser Nero möchte seine Geliebte Poppea zur Kaiserin machen und seine Frau Ottavia verbannen. Seneca, Philosoph und Lehrer Neros, rät ihm ab und schmäht ihn öffentlich wegen seines Vorhabens. Nero befiehlt ihm, Selbstmord zu begehen. Nero räumt alle Hindernisse aus dem Weg, verbannt alle Feinde und besteigt mit Poppea den Kaiserthron. Die Liebe hat gegen das Schicksal und die Tugend gewonnen.
- Termine: 19. April, 27. April, 28. April, 5. Mai, 6. Mai, 5. Juni, 6. Juni.
- Karten: zu 12-73 Euro 0621/1680 150 (www.nationaltheater-mannheim.de)
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