Von Bianca Albrecht
Im ersten Teil unseres „Erzähl mir was“-Finales begibt sich Laura in emotionale Abhängigkeit zu einem Mann, der sie bald als Prostituierte einsetzt. Wie sie später im Frauenhaus landet, erzählt sie ihrer Familie in einem Brief.
Frauenhaus Mannheim, 13. Februar 2021
Liebe Mama, lieber Papa
Es sind nun sieben Monate, seitdem der schwülwarme Sommer vergangen ist. Sieben Monate, seit den ersten, schüchternen Küssen am Rhein. Sieben Monate, seitdem alles so plötzlich endete, als hätte eine unsichtbare Flut all meine Fußabdrücke einfach ausgelöscht. Was bleibt, ist der Gedanke an schöne, wohlige Lügen, die wie ein Gift aus Zuckerwatte gewirkt hatten.
Der schwarze BMW, mit dem er vor der Schule parkte, ließ in den Augen meiner Freundinnen zum ersten Mal Neid und Anerkennung aufkommen. Ihre Bewunderung war eine süße Droge, in der ich mich hemmungslos badete. Doch dieser schöne, toxische Traum hatte gerade erst begonnen.
Alles an ihm schien edel und teuer. So, wie die große Loftwohnung oder der Champagner auf den Rooftops der höchsten Gebäude der Stadt. Sogar sein gefestigter Charakter, den ich so naiv zu kennen glaubte, wirkte stark und mächtig. Ich habe mich daran trunken geliebt. Rettungslos, besinnungslos, bis zum tiefsten Fall aus meinem Dornröschenturm.
„Ich bin noch Jungfrau“, hatte ich gesagt, als er das erste Mal seine Hand auf mein Knie legen durfte. Der Fahrtwind flog durch sein kurzes schwarzes Haar, sein verschmitztes Lächeln sorgte dafür, dass ich seine Schönheit unendlich verehrte.
„Vom Sternzeichen?“, höre ich ihn noch heute fragen.
„Nein, nicht das Sternzeichen“, hatte ich geantwortet und dabei gespürt, wie mir die Röte in die Wangen gestiegen war.
Es war mir peinlich gewesen. Doch er schien in diesem Augenblick so zufrieden, dass ich nichts hinterfragte.
Seit diesem Moment hatte ich nie wieder etwas hinterfragen wollen. Mein Vertrauen war bedingungslos, auch wenn meine Freunde schwanden und andere Urteile über ihn lauter wurden, doch ich wusste es besser. Ich zweifelte nie.
Papa, es tut mir leid. Ich bin keine Prinzessin mehr. Nicht seine, aber auch nicht mehr deine. Die Welt ist ein Ort geworden, an dem es für mich keine Wunder mehr gibt.
Das erste Mal, als ich mit einem Freier geschlafen habe, hat mir jegliche Identität geraubt. Ich kam zurück und fühlte seine Hände überall an mir. Sein widerliches, aufdringliches Parfüm klebte wie Teer an meiner Haut. Der Geruch von Ammoniak, von seinem Schweiß und seinen intimsten Stellen ließ mich erbrechen, und er wurde auch nicht schwächer, als ich lange duschte. Das heiße Wasser wusch auch die Scham nicht von mir. Sie blieb bis heute bei mir, wie ein schlechter Freund.
Von diesem Tag an lagen meine Handlungen hinter Panzerglas. Eine Zwischenwelt, die im Schein roter Lichter begann und unter einem lilafarbenen Morgenhimmel endete. Wie durch ein Schaufenster konnte ich mir selbst dabei zusehen, wie mein Widerstand schmolz. Nacht für Nacht und nur für diesen wundervollen Mann wollte ich jede Pein und jeden Schmerz aushalten. Nur für ihn tat ich so lange all die furchtbaren Dinge freiwillig. Nur weil ich glaubte, es könnte diese zarte Beziehung noch stärker machen. Ich musste ihm doch beweisen, dass ich seine Anerkennung wert war.
Heute mustern sie mich verächtlich auf der Straße. Diese Augen, die mir unsichtbare Namen tätowieren und mich zu einer Aussätzigen machen. Sie erkennen mich, sind in jeder dunklen Ecke, hinter den Fensterscheiben warm erleuchteter Restaurants oder in den Lücken der Regale beim Einkaufen. Immer beschämen sie mich, weil die Masken längst gefallen sind. Tausend Mal haben sie mich nackt gesehen, haben mich beherrscht. Sie wissen, wie schmutzig ich bin, wie meine Lippen schmecken und kennen jedes Detail meines Körpers, wie eine Landkarte. Sie waren vertraut mit meinen Gesten und haben Gewissheit, dass ihre Wünsche nie auf Widerworte gestoßen waren.
Du fragst nach dem Grund, Mama? Du fragst, warum und wie oft ich mich hergegeben habe? Es ist so einfach, zu erklären, wie es dir unbegreiflich scheint. Ich habe so viele Wochen, Nächte mit fremden, ekelhaften Männern geschlafen, weil ich nur den einen liebte. Ich liebte ihn, weil er so berauschend in meinem Leben war, wie der Frühling. Er behandelte mich wie eine Prinzessin, erfüllte mich mit Achtung und Fürsorge. Passte darauf auf, dass ich pünktlich zur Schule ging und meine Noten gut blieben.
Am Tag war seine Liebe ein Geschenk, doch in der Nacht wurde diese bedingungslose Zugehörigkeit so stark und magnetisch, dass sich meine Seele jeden Tag ein kleines Bisschen mehr mit Blei füllte.
Bianca Albrecht über sich
Seit zwei Jahren bin ich 29 und lebe am Chiemsee. Ich bin beruflich viel unterwegs, doch die Ruhe des Wassers, die Abgeschiedenheit kleiner, schilfumsäumter Stege verzaubert mich immer wieder neu.
Seit meiner Jugend habe ich mit meinem Vater die Welt bereist, um Menschen zu helfen und über die Machtlosigkeit von Mädchen in Indien oder die Korruption in peruanischen Städten zu schreiben. Daraus wurden auch Bücher.
Liebes kleines Schwesterchen,
es tut mir leid.
Ich weiß, du hast dir Sorgen gemacht. Ich habe meine Versprechen nicht gehalten und dich niemals angerufen. Ich habe auf keine deiner Nachrichten mehr reagieren können, weil ich nichts sagen durfte. So oft, als die Kälte der Straße mich beinahe auffraß, hätte ich mir deine Stimme gewünscht, doch mein Herz war längst gelähmt. Ich wollte nicht, dass du meine Tränen siehst oder mir gut zuredest. Ich wollte überhaupt niemanden mehr um mich, der nicht gut über ihn sprach. Der Rausch von Tausend Lichtpunkten betäubte mich jede Nacht, in der ich dich vermisste. Er hatte seine schwarzen Flügel mit mir geteilt, und ich fühlte mich wie sein goldener Schatten. Stolz, aber noch so dumm.
Ich wollte fliegen. Von den höchsten Häusern der Stadt und hinaus in die Lichter bis ganz nach oben. Dorthin, wo die Nacht die Sterne küsst. Hinaus in eine glänzende Welt, wo Geld nur dann eine Rolle spielte, wenn ich nicht genug davon besorgt hatte.
Liebe Oma Lotte,
ich kam nicht mehr nach Hause, weil ich bis zuletzt hoffen wollte. Glaube mir, ich habe mich niemals wirklich gegen euch vier entschieden. Diese Hingabe duldete aber nur einen Menschen in meinem Leben und forderte all meine Kraft, meine Stärke und den Glauben daran, dass sehr bald alles wieder gut werden konnte. Sein Mädchen zu sein und ihn groß zu machen war die einzige Anforderung, die er immer wieder an mich stellte. Doch ich verlor auch, wenn ich eigentlich gewonnen hatte.
Heute, an diesem kalten Februartag, sitze ich im Frauenhaus. Ich schreibe euch diese Zeilen, weil ihr wissen sollt, dass es mir gut geht. Wenn ich aber in den Spiegel sehe, sind meine Augen leer. Ich weiß nicht, welcher schöne Traum sie wieder mit Leben füllen soll. Keiner scheint groß, keiner stark genug zu sein. Blaue Flecken zeichnen sich als verblassende Spuren vergangener Kämpfe über mein Gesicht. Sie werden vergehen, wenn ich zu verstehen bereit bin. Für beides wird die Zeit kommen, wenn meine Erinnerungen nicht mehr als Plastiken im Regal sitzen. Ich habe unsichtbare Wände um mich gebaut, die viel härter waren als Stein. Meine Augen können nicht weinen und nicht mehr schlafen ohne all die Antworten, die ich wohl niemals bekommen werde. Ich wünschte, mein ewig stummer Mund könnte schreien oder nur ein einziges Wort sagen, doch er bleibt auf Wochen still. Sieben Monate lang, die leise verstrichen, weil kein Wort mehr stark genug war.
Wie viel Kraft kostet die Wahrheit? Wie viel Träume kostet eine Lüge? Wer klebt all die Scherben, die von meiner Seele übrig geblieben sind? Und welche Gestalt wird sie haben, wenn ich sie neu baue?
Ich schneide mich daran, während ich schreiben will, dass ich euch liebe. Ich habe euch vermisst. Zu meinem siebzehnten Geburtstag und auch, als ich die erste Nacht hier verbrachte. Mein Zimmer schien leer, als ich zu Weihnachten versuchte, ein paar Lichterketten aufzuhängen. Im Frauenhaus gab es keinen Weihnachtsbaum und keine Süßigkeiten im Schuh, als der Nikolaustag kam. Ich war nicht allein, aber ich war einsam.
Ihr habt gefehlt, wenn ich zu spät nach Hause kam und niemand auf mich gewartet hat. Kein Licht am Fenster, kein Schatten hinter den Gardinen. Heute würde ich jeden Ärger dieser Welt in Kauf nehmen, könnte ich nur wieder nach Hause kommen. Egal, wie spät. Auch noch nach sieben Monaten.
Wenn ich Glück habe, vielleicht? Dann wartet ihr noch immer auf mich?
In Liebe, eure Laura
Liebe Laura.
Es gibt kein Wort, das uns glücklicher macht, als eins von dir. Wir lieben dich, und die Zeit ändert nichts. Wir werden Zeit brauchen – gemeinsam.
Du liegst so falsch, wenn du glaubst, Papa steht nicht immer noch jeden Abend am Fenster. Bitte komm endlich nach Hause. Es ist niemals zu spät! Wir warten auf dich.
Deine Mama