Mannheim. Alexandra Lehmler sucht auf ihren jüngsten Alben das Glück im Kleinen. Zuerst veröffentlicht sie eine „Tandem“-Sammlung mit Bassist Matthias Debus, nun legt sie in der Duo-Besetzung nach: „Aerial“, was so viel bedeutet wie Antenne, hat sie mit dem französischen Vibrafonisten Franck Tortiller eingespielt. Es ist vielleicht noch ungewöhnlicher als sein Vorgänger. Von der Besetzung.
Musikalisch wird hier weit weniger experimentiert, überspitzt: Das Experiment dauert exakt 45 Sekunden, nämlich so lange, wie Lehmler im Saxofon-Solo des „N° 1“ betitelten ersten Tracks zuerst ein Multiphonics bläst, das zwischen a und c schillert und ein Zuhause in F-Dur nahelegt, bevor sie in der ihr eigenen eleganten Art eine g-Moll-Girlande nach oben zieht und uns in eine von Hall unterlegte Welt zwischen freiem (aber tonalem) Jazz, Avantgarde und globaler Musik entführt, in der alles möglich scheint, aber natürlich nicht eintritt. Faszinierend.
Sobald dann aber das locker groovende g-Moll-Thema des Werks angestimmt wird, wird damit auch der Grundcharakter des gesamten Albums bestimmt: harmonisch, melodiös, rhythmisch und unter dem Strich friedlich, denn wer nach großen Konflikten, nach Dramatik und Tragödie in den Stücken von Lehmler und Tortiller, in den Cover-Versionen von Puccini („Mi chiamano Mimì“) und Serge Gainsbourg („Ces petits riens“) sucht, sucht lange. „Aerial“ hat einen Duktus von Schönheit und Ausgeglichenheit.
Verführerisch-rauchiger Ton
Lehmler weist ja auch darauf hin, dass „Aerial“ auch „luftig, feurig, energisch, wandlungsfähig, mit vollem Herzen gebunden an die Sinnlichkeit von Groove und Melodie und auf eine sehr zeitgenössische Art zeitlos“ bedeutet. In gewisser Weise haftet den zehn Stücken auch die Aura der Makellosigkeit an. Nehmen wir Gainsbourgs „Ces petits riens“ (diese kleinen Nichtigkeiten). Tortiller abstrahiert den Cha-Cha-Cha in schnellerem Tempo mit dahingeklöppelten Vibrafon-Salven zwischen Tonika (a-Moll) und Dominante (Sextakkord E-Dur). Es entsteht eine flüchtige, romantisch schwebende Atmo, und wenn dann Lehmlers Bariton-Saxofon dazu kommt und mit verführerisch-rauchigem Ton das Thema bläst, entsteht sofort die perfekte Salon-Stimmung - nicht ganz mit der Aufforderung aufzustehen, denn das Stück gerät wesentlich rasanter als das Original. Alles bleibt schön. Alles bleibt cool. Alles bleibt kontrolliert. Das ist überhaupt das Wort des Albums: Kontrolle. Klanglich. Und auch emotional.
Das Glück im Kleinen
Interessant ist da auch Puccinis „La Bohème“-Arie „Mi chiamano Mimì“. Natürlich gerät auch dieses hochemotionale Selbstporträt der schwindsüchtigen Frau, mit dem sie sich dem Geliebten Rodolfo präsentiert, zur Ode an die Makellosigkeit, in der Krankheit eher keinen Platz bekommen darf. Doch kann man im schönen glatten Melodieverlauf des Sopransaxofons die spätere Katastrophe ahnen. Mimìs Tod. Der Schlusssatz steht hier wohl fürs ganze Album: „Mich freuen diese Dinge, / die solchen süßen Zauber besitzen, / die von der Liebe sprechen und vom Frühling; /die mir von Träumen sprechen und von Chimären, / diese Dinge, die Poesie heißen.“
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Lehmlers „Hymn To Hope“ schließlich unterstreicht die These. Eine Variation von „Maria durch ein Dornwald ging“ aus dem 17. Jahrhundert ist da zu hören. Simpel. Rein. Schön. Das macht Hoffnung, dass die Welt doch besser ist, als wir sie in den letzten Jahren erfahren mussten. Kunst kann träumen lassen. Auch vom Glück im Kleinen.
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