Er wolle nicht so gern zurückblicken, sagt Johan Holten im Café seines Hauses und setzt den Cappuccino an den Mund. Lieber wolle er nach vorn blicken, agieren, reagieren. „Mein erstes Credo lautet: sich nicht beirren lassen, mit voller Kraft voraus weitermachen und sich nicht darin verbeißen, alles wieder so haben zu wollen, wie es vorher war.“
Auch Holten, Direktor der Kunsthalle Mannheim, hat schwierige Jahre hinter sich. Im September 2019 wurde er von Oberbürgermeister Peter Kurz ins Amt eingeführt, wenige Monate später, mitten in einem euphorischen Anlauf der Machtübernahme am Friedrichsplatz, kam Corona. Wie das Haus seit Eröffnung 2018 so hat auch Holten kein einziges normales Jahr erlebt. Immerhin, sagt er, „haben sich 2022 unsere Erwartungen erfüllt“. 100 000 Besucher seien gekommen, „wie wir geplant hatten, allerdings in einer konservativen Rechnung“, so Holten.
Was den gebürtigen Dänen aber am meisten beschäftigt: Die Amplituden des Besucherstromes sind heute deutlich größer als noch vor der Pandemie. „Alles ist extrem schwer planbar geworden, Januar und Februar waren trotz Maskenpflicht unsere besten Monate, während das Frühjahr dann unterdurchschnittlich lief“, sagt Holten. Holten spricht von alten Mustern, die weggebrochen seien. Beispiel: Schulklassen und Besuchergruppen, die per Bus in die Kunsthalle gebracht werden. „Da gibt es einfach viel weniger, dafür könnten wir aber Eröffnungen am laufenden Band machen. Die sind in drei Stunden ausverkauft“, sagt er.
Deutsche Museen: 2021 war besser als 2020
Insgesamt stiegen die Besucherzahlen in deutschen Museen bereits im zweiten Jahr der Corona-Pandemie 2021 schon wieder leicht an, lagen aber, wie auch in den Museen der Region, immer noch deutlich unter dem Niveau vor der Pandemie. Wie aus Zahlen des Instituts für Museumsforschung in Berlin hervorgeht, stieg die Zahl der verkauften Tickets im Jahr 2021 von 33,6 auf 38,8 Millionen. Das seien etwa zwei Drittel weniger als vor Corona, als das Institut 111,6 Millionen Besucher gezählt hatte.
Nach Ansicht von René Zechlin, Direktor am Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen, haben sich die Gästezahlen in Museen und Kulturveranstaltungen erst im Laufe des Jahres 2022 etwas „normalisiert“, wie er auf Anfrage meint. Zechlin hatte quasi Glück im Unglück: Im immer noch schlechten Jahr 2021 war sein Haus einer Brandschutzsanierung wegen sowieso geschlossen.
Im Speyer lohnt der Blick auf die Zahlen indes umso mehr. Alexander Schubert, Leitender Direktor und Geschäftsführer des Historischen Museums der Pfalz, sagt eindeutig: „Das Jahr 2021 war bei uns mit Abstand das besucherschwächste seit Jahrzehnten mit gerade mal 27 259 Besuchern.“ Schubert zieht als Vergleich Zahlen von 2023 heran: Bis zum 12. Januar habe man schon 12 182 Besucher gehabt. Die Gründe für all das: Corona, was sonst.
Fast Mitleid bekommt man da bei der „Medicus“-Schau. Die mehrmals verlängerte Ausstellung, über die auch die ARD sowohl in den Tagesthemen als auch in der Tagesschau berichtet hatte, erreichte 2021 gerade mal 4226 Besucher. Schubert vergleicht: „2020 verzeichnete dieselbe Ausstellung 54 295 Besucher – und das allein in dem kurzen Zeitraum bis zur pandemiebedingten Schließung am 13. März 2020.
Dennoch ist Schubert optimistisch: „Verglichen mit 2021 fällt die Bilanz für 2022 wieder etwas freundlicher aus.“ Zwar sei man „noch weit entfernt von der vor-pandemischen Zeit“. Aber „Expedition Erde“ etwa schloss am 19. Juni 2022 mit 43 286 Besuchern ab – 40 Prozent dessen, was Familien-Ausstellungen dieser Art vor Corona erreicht hatten.
Kurpfälzisches Museum Heidelberg: Gute Bilanz durch „Frauenkörper“
Interessant ist, dass die regional unterschiedlichen Öffnungsregeln und das variierende Pandemiegeschehen 2021 dazu führten, dass sich Museen in Schleswig-Holstein etwa über ein Plus von 32,1 Prozent im Vergleich zu 2020 freuen konnten, die Besuchszahlen in Sachsen aber um 29,8 Prozent sanken. Museen in kommunaler Trägerschaft registrierten im Vergleich zum Vorjahr Einbußen von 13 Prozent, Museen in privater Hand verzeichneten Zuwächse von 23,6 Prozent.
Positive Beispiele widersprechen auch der Statistik. So gelang dem Kurpfälzischen Museum in Heidelberg 2021 „eine deutlich stärkere Erholung als dem deutschlandweiten Durchschnitt“, wie Direktor Frieder Hepp auf Anfrage mitteilt. Hepp: „Unsere Besucherzahlen 2021 liegen nur 40 Prozent unter dem Ergebnis von 2019.“ Bundesweit waren es 65 Prozent. Hepp führt das vor allem auf die Erfolgsausstellung „Frauenkörper“ (24. Oktober 2021 bis 20. Februar 2022) zurück.
Und weil nicht nur die Kunsthalle Mannheim digital sehr aktiv ist, kann auch Hepp stolz sagen: „Zudem bescherten neue digitale Veranstaltungsformate dem Museum gute Resonanzen.“ Viele Aspekte führt Hepp dafür an, dass sein Haus bereits 2022 wieder auf dem Niveau der Vor-Corona-Jahre angekommen sei. Neben den „Frauenkörpern“ und der Digitalisierung nennt er auch die Eröffnung des Mark Twain Centers mit der multimedialen Dauerausstellung „Join the Story“ im vergangenen Mai und viele Veranstaltungen im Museum, die sich laut Hepp einer „wachsenden Beliebtheit“ erfreuen. Hepp ist darüber sehr glücklich und hofft nur noch, „dass wir das Kurpfälzische Museum auch gut durch die Energiekrise bringen. Nicht alles liegt in der eigenen Hand.“
Deutscher Museumsbund ist etwas optimistisch
Nicht so gut läuft es nach wie vor in den Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen (REM). Generaldirektor Wilfried Rosendahl freut sich zwar, dass bereits 2022 wieder „mehr Menschen den Weg ins Museum gefunden“ haben als im Jahr zuvor. „Aber die Besucherzurückhaltung“, sagt er, sei nach wie vor spürbar. Aktuell erreichen die REM Rosendahl zufolge rund 60 Prozent der Zahlen aus der Vor-Corona-Zeit. „Nichtsdestotrotz bieten wir mit der großen Normannen-Schau, der Mitmach-Ausstellung ,Unsichtbare Welten’ und der Foto-Ausstellung ,Die Welt am Oberrhein’ ein abwechslungsreiches Ausstellungsprogramm an“, sagt er, wie um zu zeigen, dass alles getan wird, um an „alte Zustände“ anzuknüpfen.
Auch bei den REM zeigt sich, wie wichtig es ist, dass nicht nur versucht wird, Menschen ins Haus zu holen, sondern auch zu den Menschen zu gehen. Rosendahl: „So war beispielsweise unser X-perimente-Mobil 2022 an Grundschulen in der Region unterwegs und stets ausgebucht.“ Dies und die vielen positiven Reaktionen der Besucherinnen und Besucher zeigen Rosendahl, „wie wichtig Kultur gerade auch in diesen Zeiten für die Menschen ist“. Trotz aller Schwierigkeiten durch Corona, den Ukraine-Krieg, Einsparzwänge und Kostensteigerungen würden er und sein Team „alles tun, um weiterhin ein reichhaltiges Angebot für alle Generationen anzubieten“.
Mut macht hier auch David Vuillaume. Der Geschäftsführer des Deutschen Museumsbundes meint, dass sich die Museen auch im zweiten Pandemiejahr nicht haben entmutigen lassen. Vuillaume: „Sie wecken nach wie vor die Sehnsucht der Menschen nach kulturellen Erlebnissen.“ Dies und viele andere Indikatoren sprächen dafür, dass sich die Besuchszahlen in den Museen mittelfristig erholen würden und das Publikum zurückkehren werde. Diesen Blick vor allem nach vorn – er dürfte auch Johan Holten gut gefallen.
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