Schwetzingen. In gewisser Weise ist hier Denis Scheck der Chef-Deuter und -Kritiker. Der Reich-Ranicki, könnte man fast sagen. Scheck ist der Primgeiger in einem Literarischen Quartett, es tagt und talkt diesmal in Schwetzingen, im gar nicht so voll besetzten Mozartsaal des Schlosses. Es bespricht die aktuelle Bücher-Bestenliste, die der SWR seit nunmehr 50 Jahren jeden Monat publiziert. Schecks Mitspieler und -redner sind Shirin Sojitrawalla, häufig via Deutschlandfunk zu hören, und Jan Wiele von der „FAZ“. Der Moderator Carsten Otte äußert seine Meinung zu den vorgestellten Büchern manchmal ebenfalls.
Eine Art Wettstreit beim Gespräch über die Bücher-Bestenliste bei den Schwetzinger Festspielen
Das alles ist recht unterhaltsam: weil eine Art Wettstreit um das süffigste Bonmot entbrennt. Und Denis Scheck hat dabei keine schlechten Karten. „Ich will keine Fakten, ich will Fantasie!“, heißt es an einer Stelle. Das bezieht sich auf einen Roman von Heinrich Steinfest, „Sprung ins Leere“ - der Platz sechs der Bestenliste einnimmt. Er erfährt die längste Würdigung, weil er „durchdacht aufs Glatteis“ führe und wie ein James-Bond-Film konstruiert sei. Also alles andere als logisch. Was laut Scheck als Synonym für „großartig“ verstanden werden kann.
Es hagelt eine Menge Lob an diesem späten Nachmittag, so eine Bücherliste hat eben tendenziell empfehlenden Charakter. Zoff unter den Diskutierenden gibt es so gut wie keinen, höchstens ein paar kleine Einwände gegen die bestplatzierten Werke: „Knife“ von Salman Rushdie über das auf ihn verübte Attentat sei sicher nicht sein bestes Buch, vor allem in der (vollständig fiktiven) Unterredung mit dem Attentäter. Und Claire Keegan zeichne in ihrem Erzählband „Reichlich spät“ vielleicht ja doch ein etwas schlicht-schablonenhaftes Männer-Bild.
Dann geht es ins Rokokotheater, wo die SWR-Festspiele Heike Hoffmann, ihre Künstlerische Leiterin, verabschieden und dieses Jahr auf über 18 000 überwiegend zahlende Besucherinnen und Besucher kommen. Zum Finale gibt es noch eine Premiere: Nico and the Navigators wollen uns in ihrer aktuellen Produktion „Die ganze Wahrheit über Lügen“ wissen lassen. Was natürlich gar nicht funktionieren kann, aber das Thema ist eben so aktuell wie nie. Wenn nicht allgegenwärtig.
Eingesetzte Kunstmittel von Nico and the Navigators sind virtuos, vor allem die Tanzeinlagen
Nico und ihr Kollektiv aus Bühnentechnikern, Schauspielern, Musikern und Tänzern navigieren durch das weite Land der raffinierten Täuschungen - das noch viel größer ist als Putins Russland oder Trumps Amerika. Dass da der Kompass schlingern muss, ist unausbleiblich. Doch die dabei eingesetzten Kunstmittel sind häufig virtuos, vor allem in den Tanzeinlagen. Was brillante Zeitlupen-Sequenzen einschließt. Und im Hintergrund ermöglicht ein halbtransparentes Spiegelkabinett die Illusion der Schwerkraft-Überwindung. Auch die Ausweitung der Bühne in den digitalen Raum schafft faszinierende Effekte.
Was den musikalischen Aspekt betrifft, so überzeugen nicht zuletzt die ausgewählten Popsongs in zum Teil höchst originellen Interpretationen. Ganz am Ende steht „Gimme some truth“: John Lennon flehte 1971 um ein klitzekleines bisschen Wahrheit. Doch die gab es bereits damals eher selten. Weil da auch ein Lügenkundiger wie „Tricky Dicky“ war, wie Lennon textete. Wen meinte er damit? Den Präsidenten Richard Nixon.
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