Mannheim. Man könnte meinen, das Genre Ethno-Comedy sei auserzählt. Aber dann hat man Nikita Miller noch nicht gesehen. Der 37-Jährige wurde zwar bereits 2019 mit dem Kleinkunstpreis Baden-Württemberg ausgezeichnet. Aber noch 2022 und 2023 musste sich der Deutsch-Russe in Mannheim mit der kleinen Bühne im Casino am Capitol begnügen. Am Mittwochabend, im April 2024, spielt er nicht nur im Kuppelsaal. Es bleibt auch kein einziger Platz unbesetzt - und kein Auge trocken. Der Auftritt mit dem Programm „Im Westen viel Neues“ ist auch deshalb ein voller Erfolg, weil das Publikum den Komiker mit der volltönenden Stimme auf einem durchgängigen Lachteppich durch die 100 Minuten trägt.
In Kasachstan geboren, die Kindheit in der Ukraine verbracht
Miller liefert. Aber nicht unbedingt das, was man erwartet. Mit seiner Herkunft als in Kasachstan geborener Russe, der in der Ukraine den Kindergarten besucht hat und mit seiner Familie früh ins Schwäbische übergesiedelt ist, könnte man den Abend weitgehend mit Putins Angriffskrieg füllen. Diesem Ritt auf der Rasierklinge ist der Komiker auch nicht aus dem Weg gegangen - bis jetzt. Das neue Programm klammert das Thema bis auf einen Halbsatz aus. Was man über zwei Jahre nach Kriegsbeginn auch gut finden kann. Zum Lachen ist bei dem Thema ja wohl niemand mehr zumute.
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Wie der an Erich-Maria Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“ angelehnte Programmtitel nahelegt, geht es um die kleinen und großen Kulturschocks, die ein zunehmend westlich sozialisiertes Kind zwischen deutscher Mehrheitsgesellschaft und russischer Großfamilie, anfangs im übervollen Wohnheim, erlebt. Diese Perspektive zu eröffnen, ist immer noch der Reiz an Ethno-Comedy. Um sich in die Neubürger hineinversetzen zu können. Aber auch deren Blick auf deutsche Marotten kann faszinieren. Miller gelingt beides.
Ungewöhnlicher Comedy-Ansatz ohne Pointen-Rallye
Das liegt auch an seinem Ansatz. Der kräftig gebaute frühere Student der Philosophie liefert keineswegs die Alltags-Comedy-typische Pointen-Rallye. In Dialogen mit Eltern, Großeltern und Freunden entstehen im Kopf der Fans erstaunlich plastisch wirkende Szenen. Am lautesten lacht der Teil des Publikums mit ähnlichem Migrationshintergrund, denen manche Szenen aus Elternhäusern, die mit ihren Kindern nicht durchgängig auf Kuschelkurs gegangen sind, sehr bekannt vorkommen.
Aufregender als der Erzählstil von Wladimir Kaminer
Der Männeranteil im Publikum überwiegt. Obwohl Millers Humor nicht wirklich machohaft ist. Aber maskulin, was schon seine Statur und die bewusst gesetzte, aber dezente slawische Sprachmelodie unterstreicht Dazu kommt ein Haifisch-Lächeln bei jedem besonders großen Lacher. So schwarz und böse ist Comedy heute nur noch selten. Das wird für ein größeres Publikum immer interessanter, weil Miller tatsächlich oft die melancholisch-depressive Tiefe transportiert, die Deutsche gern der russischen Seele zuschreiben. Er ist zwar kein Dostojewski oder Bulgakow. aber längst aufregender als der präsentere Wladimir Kaminer.
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