Kolumne #mahlzeit

Warum lügen menschlich ist

Kleine Sünden wie bei roter Ampel mit dem Rad über den Gehweg ausweichen findet unser Kolumnist Stefan M. Dettlinger vollkommen normal. Das Problem: Es gibt da ein paar Leute, denen das nicht gefällt - eine Abrechnung

Von 
Stefan M. Dettlinger
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© kako

Ich weiß ja nicht, wie es den anderen ergeht, aber immer wieder in meinem Leben – eigentlich fast täglich – gibt es da so ärgerliche Momente, in denen ich an die Bibel denke, an Jesus und wie er im Tempel die Pharisäer auffordert: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie!“ Es geht um Gravierendes, um die Ehebrecherin, die die Pharisäer steinigen wollen, denn: „Meister, dieses Weib ist auf der Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Im Gesetz aber hat uns Mose geboten, solche zu steinigen. Was sagst nun du?“ So ein Stuss steht in der Bibel.

Neulich habe ich – Polizei, bitte nicht lesen – mit dem Fahrrad den bei allen klugen Radfahrern verbreiteten Trick angewandt, bei einer roten Auto-Ampel kurz auf den Gehweg und erst nach der Ampel wieder auf die Straße zu wechseln. Ich mache das manchmal, weil ich finde, dass wir Radfahrer im Straßenverkehr sonst nur Nachteile haben: Wir werden etwa bei Regen von vorbeipreschenden Schwergewichten einer Zwangswäsche im Whirlpool-Stil ausgesetzt, werden von Leuten, die einfach so aus ihren parkenden Kisten steigen, einer Reflexprüfung unterzogen oder von blinden Autofahrern beim Abbiegen einfach umgemäht und zu Hackfleisch verarbeitet. Ich will niemandem Vorsatz unterstellen.

Aber da ist doch die kleine und absolut gefahrenfreie Sünde, eine rote Ampel auf dem Bürgersteig zu umfahren, Peanuts, wie ein Ackermann mal meinte. 55 Euro Bußgeld. Wenn man Leute gefährdet: 80 Euro. Na ja, was ich nur sagen wollte, ist, dass, als ich die Aktion neulich mal wieder praktiziert habe, hinter mir so ein neunmalkluger Typ von der selbst ernannten Bürgerwehr in einem fetten Schlitten laut gehupt und mit seinem Hilti-Schlagbohrer-Blick versucht hat, mich zu zerstören.

Ich dachte an Jesus, die Ehebrecherin und hatte Lust, zurückzufahren und den Typ zu fragen, ob er frei sei von Schuld, ob er nicht hier und da ein bisschen betrüge, ob er nicht jährlich bei der Einkommensteuererklärung kleine Hinterziehungen versuche (was, wie ich gehört habe, für manche tatsächlich gängige Praxis ist), ob er nicht bisweilen seine Freundin anlügt, um sich Ärger zu ersparen oder einen egoistischen Vorteil zu verschaffen, ob er nicht – der Gipfel der Gemeinheit – hin und wieder sich selbst belügt, wenn er in den Spiegel schaut und denkt: Ich sehe gut aus, ich bin zufrieden.

Klar, wäre ich in einem solchen Moment ein weniger zivilisierter und mit dem Gewaltpotenzial des blaublütigen Prinz Ernst August von Hannover ausgestatteter Mensch – ich wäre zurückgefahren, hätte an die Scheibe geklopft und dem Typ so mir nichts dir nichts das Nasenbein gebrochen. Aber das ist alles hypothetisch, denn weder gehöre ich zum Kriminellenclub des Hochadels noch bin ich zurückgefahren.

Ich finde es menschlich, Fehler zu machen und gelegentlich die Wahrheit zu verbiegen. Kleine Lügen oder moralische Verfehlungen sind weit verbreitet. Wer stets die Wahrheit sagt, steht schnell ohne Freunde und Arbeit da. Oder mit einem Bein im Gefängnis. By the way: Wo sind eigentlich Alya, Bela und Caro. Warum lassen die mich immer öfter allein?

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Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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