Mannheim. „Wir waren alle einmal gefährdet“, wird Thomas Fischer an diesem Abend in Mannheim sagen - und damit jene Momente meinen, in denen jeder einzelne von uns eine Straftat beging, in Furcht war, erwischt zu werden - und glücklich sein konnte, davongekommen zu sein. Der Ort, an dem der ehemalige Bundesrichter diesen fast schon humanistischen Gedanken in Worte fasst, ist die Alte Feuerwache. Anstatt den allseits beliebten SWR-Podcast „Sprechen wir über Mord?!“ routiniert im Baden-Badener Studio aufzuzeichnen, führt das Podcastfestival des Südwestrundfunks nach Mannheim, wo hunderte Zuschauer gebannt auf ihren Stühlen sitzen, um einmal live zu erleben, was sie für gewöhnlich nur als fertig aufgenommenes digitales Produkt erreicht.
Finale am 14. Januar
- Auch am letzten Tag des SWR-Podcastfestivals gibt es in Mannheim insgesamt drei Formate zu erleben.
- Ausschließlich Gewinnern einer Verlosung vorbehalten bleibt der Nischen-Podcast „Njette Mädchen“.
- Unter der Überschrift „Gästeliste Geisterbahn“ wollen Donnie O’Sullivan, Markus Herrmann und Nilz Bokelberg um 20 Uhr im großen Saal der Alten Feuerwache ihr ganz eigenes Show-Feuerwerk abbrennen.
- Im kleinen Haus der Feuerwache wartet um 20 Uhr der SWR2-Wissen-Podcast, der als selbst ernannter „Science Talk“ Einblick in wissenschaftliche Phänomene gibt. An diesem Abend zu Gast Netzlehrer Bob Blume.
- Für beide Events gibt es unter https://podcastfestival.ticket.io noch Restkarten. mer
Während die „Stunde History“ in Richtung der Machtergreifung Adolf Hitlers führt und Christian Huber mit Tarkan Bagci den „Gefühlten Fakten“ nachgeht, sitzen ARD-Terrorismusexperte Holger Schmidt und der erfahrene Jurist Thomas Fischer auf dem Podium, um einen Fall zu diskutieren, der nicht nur dem True-Crime-Anstrich des Formats bestens gerecht wird, sondern sogar mitten in die Region führt.
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Es ist der Fall Johann Babies, der vor Publikum noch einmal rekonstruiert und dabei feingliedrig in seine Bestandteile zerlegt wird. Denn Moderator Schmidt zeigt nicht nur die nüchternen Fakten des Todesfalls eines Wohnsitzlosen, der am 15. Oktober 2003 von acht jungen Menschen geprügelt wurde, bis er starb - er lenkt das Licht auch auf das „Warum?“ und vielmehr noch auf das „Was nun?“. Denn die Frage, weshalb die insgesamt acht Täter nicht ins Gefängnis mussten, hat Thomas Fischer parat: „Mord und Totschlag brauchen zur Verurteilung den Vorsatz.“ Den hatte das Gericht nicht erkennen können, die Gruppe selbst sprach zu ihren Motiven von „Langeweile“, „Zukunftsangst“ und „Perspektivlosigkeit“.
Mut zur Resozialisierung
Am Ende muss mit dem 19-jährigen Max nur einer der Tatbeteiligten hinter Gitter, die bestrafte Tat: Körperverletzung mit Todesfolge. Max’ Verteidiger damals ist Manfred Zipper. An diesem Abend in Mannheim erinnert er sich, dass er nicht nur mit seinem Mandat für diesen jungen Mann, der auf die schiefe Bahn geraten war, deutlich über die notwendige Pflicht hinausging: Auch Max habe die Zeit des Vollzugs genutzt, um ein anderer Mensch zu werden. Während Thomas Fischer augenzwinkernd über den „Kuschel-Vollzug“ als „nachgeholte Kindertagesstätte“ flachst, wird Zipper ernst und zeichnet das Bild eines jungen Mannes, der in Haft zur Besinnung gekommen sei, sich nach der Zeit im Knast eine Existenz aufgebaut habe.
Während all diesen - bisweilen hitzigen - Sticheleien herrscht eine besondere Atmosphäre in der Feuerwache, und das nicht allein, weil die Zuhörer direkt mitgehen, lachen, aufhorchen, tuscheln. Nein, es ist auch das Setting an sich. Denn noch Minuten vor Beginn mögen die vorbereitenden Manuskripte die Ideen davon geformt haben, in welche Richtung sich die Gespräche entwickeln mögen, in diesem Augenblick gilt nur das gesprochene Wort.
Eine Einsicht, die sich früher oder später auch bei Thomas Fischer durchsetzt, der weiter konsequent seine Meinung vertritt, aber zumindest auf die ein oder andere mögliche Spitze verzichtet. Zum Thema Resozialisierung merkt Fischer dann auch weitsichtig an, ein Mensch sei und bleibe neben seiner Tat so vieles andere, das er bewahren und nach verbüßter Haft wieder zur Entfaltung müsse bringen dürfen - alles andere sei nur eine „Aufforderung zu weiterem Scheitern.“
Große Gegensätze
Wie es sich anfühlt, gar eine Schuld angeheftet zu bekommen, die nicht die eigene ist, weiß Klaus S. nur zu genau. Der von Anwalt Jörg Becker vertretene Mann galt für die Ermittlungsbehörden lange als der sogenannte „Paket-Bomber“, der an Wild in Eppelheim, aber auch an Lidl und Hipp Postsendungen mit explosivem Inhalt versandt haben sollte. 228 Tage verbüßte er in Untersuchungshaft, bis schließlich nur noch ein untergeordneter Verstoß wegen Munitionsbesitz zu einer geringen Geldstrafe führte.
Während bereits die Ermittlungen mit Cartrailer-Hunden und Observationen unter zumindest zweifelhaften Umständen stattgefunden hätten, so Moderator Schmidt, sei es doch ganz erstaunlich, dass man einem Unschuldigen nun, wie kürzlich entschieden, auch noch die Verfahrenskosten aufbürden wolle. Ein mutwilliges Handeln der Staatsanwaltschaft gegen Klaus S. will Fischer aber in keinem Fall in Betracht ziehen - „das wäre, um es vorsichtig zu formulieren, in jeder Hinsicht grob rechtswidrig.“ Und so stehen große Grundsätze neben noch größeren Gedanken, die sich am Wochenende in diversen Podcasts noch fortsetzen werden - zur besten Unterhaltung des gebannten Live-Publikums.
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