Schon bei Molière war Monsieur Tartuffe ein notorischer Taugenichts und Tunichtgut, ein Verführer, Lügner und Betrüger. Wie er sich bei seinem Freund Orgon einschleicht, ihm das süße Gift der schnellen Geldvermehrung einträufelt, um ihn bei jeder Gelegenheit zu hintergehen und um alles zu bringen, was ihm lieb und teuer ist, war schon immer für eine tolldreiste Satire gut. Wie man aus dem überdrehten Fegefeuer der Eitelkeiten eine fulminante Abrechnung mit den Auswüchsen des Spätkapitalismus machen kann, zeigt Regisseur Volker Lösch mit einer zeitgeistigen Überschreibung und lustvollen Plünderung der alten Molière-Komödie. Mit seiner Inszenierung von „Der Tartuffe oder Kapital und Ideologie“, die er vom Staatsschauspiel Dresden nach Berlin brachte, hat das diesjährige Theatertreffen, das vorher von gepflegter Langeweile, folgenlosem Mittelmaß und kränkelnden Diskurs-Versuchen geprägt war, ein irrlichterndes Finale gefunden.
Linksalternatives Milieu
Die Autoren vom anonymen Text-Kollektiv „Soeren Voima“ überführen Molières Bühnen-Klassiker von 1664 in die jüngere bundesdeutsche Realität. Sie tummeln sich im links-alternativen Milieu der Wohngemeinschaften und ökologischen Zukunftsträume und verquirlen ihre süffige Gesellschaftssatire mit theoretischen Appetit-Häppchen der marxistischen Gesellschaftskritik, wie sie vom französischen Star-Philosophen Thomas Piketty in dicken Büchern ausformuliert werden. Eines heißt „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, ein anderes „Kapital und Ideologie“. Darin geht es um die Verwerfungen einer Gesellschaft, die auf Wirtschaftswachstum und sozialer Ungleichheit basiert und die Welt in die Katastrophe führt, wenn wir nicht anfangen, gegenzusteuern und ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit erproben.
Bis es so weit ist, will Tartuffe (Philipp Grimm) aber noch ordentlich absahnen. Aus dem einstigen linken Sponti ist nach einem Aufenthalt in den USA ein Freund der Kapital-Vermehrung geworden. Mit Cowboy-Stiefeln und Fransen-Jacke reitet er bei seinem Kumpel Orgon (Jannik Hinsch) ein und bringt die sozialistische Idylle kollektiver Solidarität gehörig ins Wanken.
Der Katzenjammer ist groß
Im Laufe der Jahre, in denen Kohl die Macht ergreift und die Mauer fällt, das Börsen-Fieber ausbricht und erst die Kurse, dann der Immobilienmarkt und schließlich ganze Gesellschaften kollabieren, mutiert das mit muffigen Matratzen, alten Che-Guevara-Postern und Bierflecken versiffte Haus von Orgon zu einer tollen Wertanlage mit schicken Apartments. Aus kiffenden Freaks und randalierenden Punks werden Aktien-Händler und Loft-Besitzer, die in geborgtem Luxus leben und irgendwann ihre faulen Kredite nicht mehr bedienen können.
Die Party ist vorbei, der Katzen-Jammer groß. Nur Orgons Freundin Elmire (Henriette Hölzel) hat immer vor dem bösen Ende gewarnt und ist ihrer alternativen Weltsicht treu geblieben. Sie hat Marx & Piketty ganz genau gelesen und haut den geldgeilen Opportunisten ihren Verrat um die Ohren. Das klingt manchmal nach Volkshochschule, ist aber richtig und wichtig. Die turbulente Kapital-Vernichtung produziert viele lustige Klischees und beweist, dass politisch subversives Theater auch intelligent und witzig sein kann.
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