Frau Shirinyan, fliegen Sie gern?
Marianna Shirinyan: Im Flugzeug?
Okay, wir können auch über die Klimakatastrophe sprechen. Sie sind ja viel unterwegs. Haben Sie manchmal ein schlechtes Gewissen wegen der Emissionen?
Shirinyan: Permanent.
Und was machen Sie dagegen?
Shirinyan: Alles, was die moderne Technologie erlaubt. Und ich vermeide das Fliegen, wenn es irgendwie geht. Ich lebe aber auf einer Insel. Es dauert extrem lange, den Zug zu nehmen. Meine Kinder sind in einem Alter, wo sie mich noch sehr brauchen, und da will ich nach Konzerten schnell wieder zuhause sein.
Eigentlich bezog sich die Frage ja mehr auf das Bild auf Ihrer Website. Dort fliegen Sie auf das Klavier zu. Können Sie fliegen?
Shirinyan: (lacht laut und lange) Das ist mein Fotograf, der mich dort fliegen lässt. Das mache ich sehr gern.
Irgendwie sieht man schon auf den Bildern, dass Sie Humor haben. Woher kommt der eigentlich?
Shirinyan: Wahrscheinlich aus meinem Heimatland. Dort ist es fast nicht möglich, ohne Humor zu überleben. Man muss lernen, nichts ernst zu nehmen. Das hilft einfach.
Der berühmteste Armenier ist Charles Aznavour. Lieben Sie ihn?
Shirinyan: Ja, sehr! An sich war er, oder besser gesagt sein künstlerisches Wirken, sehr armenisch, er ist ja ein französischer Chanson-Gott. Seine Familie kommt aber tatsächlich aus der gleichen armenischen Enklave in Georgien wie meine Familie, das finde ich herzwärmend.
Glauben Sie, dass Ihr Humor auch in Ihrem Klavierspiel zu hören ist?
Shirinyan: O ja, manchmal auch zu viel. Ich weiß, dass ich manchmal akademischer spielen sollte. Ich gehe aber sehr gern an die Ecken und Kanten. Ich liebe das. Besonders auch bei Mozart.
Sie machen aber auch sehr viel: Lesungen mit Katja Riemann und Maria Schrader, die Ihnen ein bisschen ähnlich sieht …
Shirinyan: … beide sehen mir ähnlich, nur Katja ist blonder …
… ja, und dann sind da Kammermusik, Klavierkonzerte und Recitals, teils mit dem Allerschwierigsten, etwa Ravels „Gaspard de la nuit“. Wie schaffen Sie das alles? Haben Sie kein Privatleben?
Shirinyan: Ich weiß nicht. Einige der Werke habe ich früher schon gespielt, einige studiere ich neu ein. Zum Glück bin ich ein Schnelllerner und ein neugieriger Typ. Ich probiere viel aus und habe in einer Art und Weise den Kampf um Perfektion aufgegeben. Es klingt vielleicht klischeehaft: Aber bei allem, was ich mache, steckt die Liebe dahinter. Ich kann einspurig nicht fahren, obwohl das einfacher wäre. Ich liebe das so sehr. Ich nutze gerne die Nächte für arbeiten, besonders wenn es kriselt …
… wenn was kriselt?
Shirinyan: … na wenn ich weiß: Jetzt muss ich aber üben (lacht), weil drei verschiedene Programme innerhalb von zwei Wochen bevorstehen. Gestern hatte ich das Konzerthaus in Stavanger für mich allein, ein Übezimmer mit einem Steinway ohne Fenster und fast ohne Mobilverbindung, da habe ich dann von acht bis nach Mitternacht geübt. Das war ein wunderschönes Gefühl.
Marianna Shirinyan
- Marianna Shirinyan wurde 1978 in Jerewan, Armenien, geboren und erhielt ihren ersten Unterricht im Alter von sechs Jahren.
- 1995 begann sie ihr Studium an der dortigen Staatlichen Musikhochschule und setzte dieses in Hamburg fort, bevor sie an der Musikhochschule Lübeck bei Konrad Elser mit Auszeichnung abschloss.
- Seit Herbst 2015 lehrt sie als Professorin an der Norwegischen Musikakademie in Oslo. Marianna Shirinyan ist Steinway Artist.
- Akademiekonzert: 20./21. Februar, 20 Uhr, Rosengarten. Alexander Soddy dirigiert Bruckners Fünfte und Mozarts Klavierkonzert d-Moll (KV 466).
- Info/Karten: 0621/260 44.
Wer kümmert sich um Ihre Kinder, wenn sie so viel arbeiten?
Shirinyan: Mein fantastischer Mann.
Das klingt nach dem Gegenentwurf zur überkommenen Ehe?
Shirinyan: Mein Mann ist unglaublich. Wenn ich zuhause bin, mache ich auch viel. Wir hatten nie eine Aufteilung. Wer gerade kann, der macht etwas - wie es kommt.
Wie Sie leben und mit der Musik umgehen, hört sich auch wie ein Gegenentwurf zum traditionellen Ideal des klassischen Musikers an, der nach ewiger Gültigkeit sucht - wie etwa Grigori Sokolov. Ist es so?
Shirinyan: Das stimmt. Sokolov ist unglaublich. Ich bewundere ihn sehr. Seine Interpretationen erreichen ikonischen Status. Aber ich mache das ganz anders. Ich habe das auch nie probiert. Ich könnte nicht eine Saison lang nur ein Programm spielen. Das ist eine Charaktersache.
Und Sie müssten sich auch für eine Interpretation entscheiden.
Shirinyan: Glauben Sie, dass Sokolov immer genau gleich spielt?
Ich habe den Eindruck, ja. Also spontan klingt es nicht.
Shirinyan: Das ist auch richtig. Aber immer, wenn ich ihn gehört habe, war ich „elevated“, also auf einem anderen Planeten. Also ich bin sehr froh, dass die Musikindustrie heute noch Platz für Leute wie ihn hat.
Sie bringen nach Mannheim, wie zuletzt schon 2019, Mozart mit. Sein KV 466 trifft auf Bruckners Fünfte - das ist fast ein Fest des Katholizismus. Wie haben Sie’s eigentlich mit der Religion?
Shirinyan: Ich bin ja armenisch getauft. Man ist bei uns recht religiös. Aber Religion hat eine interessante Rolle und mehr mit Identität als mit Religion zu tun. Armenien war die erste christliche Nation. Und die Menschen haben Jahrtausende für die Religion gekämpft. Es hat das Christentum schon im Jahr 301 übernommen. Seitdem gab es viele Kriege, und dadurch, dass die kulturelle Identität der Religion da war, auch die Sprache, konnte die armenische Bevölkerung überleben - egal ob in Armenien, Amerika oder in Frankreich. Man bleibt wegen der Sprache, Religion und Kultur armenisch. Also: Mein Bruder und ich, wir sind nicht so religiös aufgewachsen. Aber wenn ich in Armenien bin und eine dieser kleinen Kirchen sehe, die aus dem 7. oder 8. Jahrhundert stammen, dann muss ich reingehen und in der Stille für fünf Minuten reflektieren. Manchmal singt da ein Priester. Das bedeutet mir wahnsinnig viel. Ich bin nicht sicher, ob das etwas Religiöses ist. Aber ich genieße es, weil wir besonders heute in so fragilen Zeiten leben. Ich kann aber nicht sagen, dass ich auf Gott zähle, wenn es mal Probleme gibt.
Und in der Musik? Denken Sie beim Musikmachen daran, dass Bach evangelisch war, Mozart katholisch und Wagner gegen Juden? Spielen solche sekundären Merkmale von Komponisten eine Rolle?
Shirinyan: Man kommt nicht drum herum. Bachs Protestantismus klingt ja auch. Tatsächlich: Je älter ich werde, desto mehr spüre ich die Menschen und ihre Religion hinter den Kompositionen. Und bei Schubert zum Beispiel, etwa in der „Winterreise“, da scheint sein menschliches Dasein so stark heraus. Da ist dieser Mensch in einer unendlichen Ewigkeit. Aber auch bei Mozarts d-Moll-Konzert, das ich ja in Mannheim spiele. Man hört so vieles - etwa den Tod seiner Mutter. Und bei Mozart hört man auch, dass er, auch wenn es tragisch wird, sein Glas Wein doch noch genossen hat.
Spielen sie eigentlich die Kadenzen von Beethoven?
Shirinyan: Ja, ich habe zwar selbst auch welche geschrieben - aber Beethoven ist einfach besser.
Der war einfach ziemlich begabt.
Shirinyan: Ja, sehr begabt.
Sie sind neben der Musik aber auch sehr sozial engagiert, machen Flüchtlingsprojekte und mehr. Was treibt Sie da an?
Shirinyan: Wenn wir uns nicht alle in diesen schwierigen Zeiten die Hand geben, dann … es ist so schwer heutzutage, Mensch zu sein. Es gibt Menschen, die einfach am falschen Ort geboren wurden. Es wird immer dramatischer. Es gibt zu viele, die Hilfe brauchen, weil die Gier, die Politik und die Natur für so viel Leid sorgen. Armenien war in den 90ern auch ein sehr schwieriger Ort. Das war ein totaler Kriegszustand. Und mir wurde damals so viel geholfen …
… und das wollen Sie weitergeben.
Shirinyan: Ja, ich bin so dankbar für das, was mir dann widerfahren ist. Ich sehe die Notwendigkeit, dass ich immer etwas davon zurückgeben muss. Sowieso: In Armenien gibt es immer Probleme. Da muss man sich sowieso die ganze Zeit die Hand geben. Das ist eine Pflicht für mich.
Haben die Armenier auch Angst vor Putin?
Shirinyan: Das ist eine sehr schwierige Situation. Seit der Waffenruhe nach dem zweiten Berg-Karabakh-Krieg 2020 sind es die so genannten russischen Friedenswächter, die für den Frieden in der Region sorgen. Nun haben aber aserbaidschanische Öko-Aktivisten den einzigen Korridor, der zwischen Armenien und Berg Karabakh liegt seit zwei Monaten blockiert. Durch diesen Korridor wird die Karabakher Bevölkerung mit Essen, Elektrizität, Medikamente und anderen essenziellen Sachen versorgt. 120 000 Menschen, die dort leben, könnten bald sterben, da ihnen kein Essen und andere Lebensnotwendigkeiten geliefert werden können. Das wäre genau die Arbeit der Friedenswächter, so etwas nicht zu erlauben. Gleichzeitig werden alle Arten der Versuche von der armenischen Seite, Verbindung nach Europa oder Amerika herzustellen, um Unterstützung und Hilfe zu bekommen, von der russischen Seite strengstens verwarnt. Es ist selbstverständlich keine gute Situation für das Land. Die Aserbaidschanische Seite möchte eben Karabakh ganz übernehmen. Es ist de facto eine Katastrophe. Berichte gibt es darüber sehr wenig, teils auch, weil die EU heutzutage von aserbaidschanischem Gas abhängt.
Was machen die Russen dort?
Shirinyan: Die würden gern große Teile von Armenien und teils auch Georgien übernehmen, glaube ich. Sie haben große Ambitionen über den schönen Kaukasus.
Noch mal zurück nach Mannheim. Was werden Sie eigentlich als Zugabe spielen?
Shirinyan: Das weiß ich noch nicht. Vielleicht Brahms: die Nummer 2 aus op. 118. Das könnte eine Brücke zwischen Mozart und Bruckner sein. Oder Schumann. Oder Schubert.
Mit Schubert wären es dann drei Österreicher im Programm.
Shirinyan: Das ist ein Argument.
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