„Wie man mit Toten spricht“ heißt das Stück von Anastasiia Kosodii, Hausautorin am Mannheimer Nationaltheater, das am 22. April im Studio Werkhaus Premiere feiert. Wir sprachen mit der ukrainischen Dramatikerin und Regisseurin, die ihren Text auch selbst inszeniert.
Frau Kosodii, in einem öffentlichen Essay für das Nationaltheater haben Sie die Frage gestellt, „Wie man während des Krieges fürs Theater schreiben kann (ich weiß es nicht)“. Haben Sie mit Ihrem Stücktext zu „Wie man mit Toten spricht“ eine Antwort gefunden?
Anastasiia Kosodii: Ich glaube, ich habe eine Richtung gefunden, in die ich mich im Moment bewegen kann. Wie ich es gern mit meinem guten Freund (dem Dramatiker) Maksym Kurotschkin sage: Wenn man weiß, wie man einen Text schreibt, dann braucht man es nicht zu tun. Und niemand weiß gerade, wie man Texte schreibt, weil sich die Gegebenheiten so schnell ändern und so viele schreckliche Dinge geschehen, dass man sich darin verliert, die richtige Sprache zu finden. Aber dieser Text ist eine Art Versuch, darüber nachzudenken, wie man über Verlust spricht. Nicht nur den Verlust durch den Krieg, sondern generell Verlust im Leben. Es sollte eigentlich ein ganz anderer Text werden. Aber dann kam der 10. Oktober, Russland startete seine Massen-Raketenangriffe. Ich habe den ganzen Januar in Kiew verbracht, weil ich es erfahren musste, wie es ist, in dieser Situation zu leben, um darüber zu schreiben. Ich glaube, das hat den Text für dieses Theater sehr beeinflusst. Es geht darin um viele Dinge: Wie deine Freunde Soldaten werden, wie man mit dem Verlust umgeht, wie damit, mit einem völlig veränderten Leben mit Blackouts, mit konstanter Gefahr zurechtzukommen.
Ich war bei den Protesten auf dem Maidan und hatte das Gefühl, dass wir diesen Moment festhalten müssen
Worum geht es im Kern des Stücks?
Kosodii: Kurz gefasst ist es eine Geschichte über zwei Freunde, ein Mann und eine Frau, die Soldaten werden, in den Krieg ziehen und sterben. Eine dritte Freundin erinnert sich an sie und führt eine Art Gespräch mit ihnen, das niemals stattgefunden hat. Sie versucht zu verstehen, wie man mit der Wirklichkeit fertig werden kann, fortlaufend Freunde zu verlieren und zu begreifen, dass es an einem gewissen Punkt unausweichlich ist. Und wie man mit dieser Wirklichkeit leben und dennoch an die Zukunft denken kann.
Anastasiia Kosodii und ihr Werk
- Die ukrainische Dramatikerin und Regisseurin Anastasiia Kosodii, Jahrgang 1991, ist in der Spielzeit 2022/23 Hausautorin am Mannheimer Nationaltheater (NTM).
- Premiere ihres Stückes „Wie man mit Toten spricht“, bei dem sie auch Regie führt, ist am Samstag, 22. April, 20 Uhr, im Studio Werkhaus des NTM. Eine weitere Vorführung findet am Sonntag, 23. April, 20 Uhr, statt.
- Am Sonntag, 23. März, 20 Uhr, steht zudem „Theater(machen) in Zeiten des Krieges. Ukrainische Perspektiven“ auf dem Studio-Werkhaus-Spielplan. Darin wird auch aus Kosodiis Stück „Acht kurze Kompositionen über das Leben der Ukrainer*innen für ein westliches Publikum“ gelesen, das im Sommer 2022 entstanden ist und derzeit in Kiew aufgeführt wird.
- Ihre Karriere begann Kosodii als Mitbegründerin des Theaters Zaporizka nova drama in ihrer Heimatstadt Zaporizhzhia. 2019 wurde sie leitende Dramatikerin des PostPlay Theaters in Kiew. Im selben Jahr war sie Autorin bei dem Projekt „City To Go“, das in drei Städten der Regionen Donezk und Lugansk mit Kindern in lokalen Schulen aufgeführt wurde.
- 2020 schrieb und inszenierte sie das Stück „Was ist jüdische Musik“ über ukrainischen Antisemitismus. 2021 arbeitete Kosodii zusammen mit Natalia Vorozhbyt als Dramatikerin an „Crimea 5am“, einem internationalen Projekt, das politischen Gefangenen gewidmet ist und Aufmerksamkeit auf die Menschenrechtsverletzungen auf der besetzten Halbinsel Krim lenken soll.
Zuvor gestalten Sie den Abend „Theater(machen) in Zeiten des Krieges. Ukrainische Perspektiven“ mit dem Musiker und Autor Yuriy Gurzhy sowie den Schauspielerinnen Annemarie Brüntjen und Alina Kostyukova, die auch an „Wie man mit Toten spricht“ mitwirken. Was geschieht bei dieser „poetischen Intervention“?
Kosodii: Es ist eine Art Einführung in den ukrainischen Kontext. Denn die Deutschen wissen nicht sehr viel über die ukrainische Kultur und die Ukrainer auch nicht viel über die deutsche. Wir wollen diesen Kontext erweitern. Nicht nur in Hinsicht auf den russisch-ukrainischen Krieg in der Zeit von 2013 bis heute, sondern wir wollen auch über das 20. Jahrhundert sprechen und darüber, wie es alles beeinflusst hat, was heute geschieht. Yuriy wird über die Musik der Proteste, die Musik der Revolution sprechen, und es wird auch eine Lesung meines Textes „Eight Short Compositions from the Lives of Ukrainians for a Western Audience“ geben.
Beide Produktionen werden zweisprachig sein?
Kosodii: Das ist ein wichtiger Aspekt: Es wird ukrainische und deutsche Übertitel geben - wir denken noch über englische nach -, weil wir sowohl ukrainische Geflüchtete, die sich entschieden haben, hier zu bleiben, als natürlich auch die lokale Öffentlichkeit einladen wollen. Wir wollen dieses Stück auch zu etwas machen, bei dem sich die Menschen begegnen und miteinander ins Gespräch kommen. Denn ich weiß, wie hart es in einer neuen Stadt sein kann - für jeden und besonders, wenn man es sich nicht selbst ausgesucht hast, sondern von den gewaltsamen Umständen dazu gebracht wurde.
Ihre Arbeit ist über die Jahre hinweg immer sehr politisch gewesen. Was hat für Sie dazu den Anlass gegeben?
Kosodii: Ich habe 2014 richtig mit dem Schreiben begonnen, als die Maidan-Revolution schon im Gang war. Das war für mich tatsächlich das erste Ereignis, das mir aufzeigte, warum wir Theater brauchen. Ich war zu der Zeit nicht in Kiew, sondern in Zaporizhzhia. Ich war bei den Protesten und hatte das Gefühl, dass wir diesen Moment festhalten müssen, vielleicht Interviews mit den Menschen führen - ich war zu der Zeit Journalistin bei einem lokalen TV-Sender. Aber ich hatte den Eindruck, dass journalistische Arbeit dafür nicht ausreicht. Ich sammelte die Interviews, aber merkte, dass das für mich nicht funktioniert, denn das konnte dieses völlig neue Gefühl, dass diese Bewegung für die ukrainische Gesellschaft bedeutete, nicht erklären. Also schrieb ich ein fiktives Stück.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-ntm-hausautorin-kosodii-erklaert-warum-wir-theater-brauchen-_arid,2062737.html