Mannheim. Wenn einer die desaströsen Zustände der jüngeren Geschichte aus eigener Anschauung kannte, dann Bertolt Brecht. Schließlich musste er vor den Nazis durch halb Europa fliehen, bevor er in den Vereinigten Staaten vorübergehend Zuflucht fand. „Nur noch ein Gott kann uns retten“, hatte Martin Heidegger 1966 in dem legendären „Spiegel“-Gespräch verkündet. Gemessen an seiner atheistischen Philosophie eher unwahrscheinlich. Bertolt Brecht, auch kein Anhänger frommer Gesinnung, lässt in seinem Stück „Der gute Mensch von Sezuan“ gleich drei himmlische Besucher einschweben, um die Gutheit der Menschen zu testen.
Vorstellungen am NTM
Als sie ein Nachtquartier suchen, nimmt allein Shen Te, eine Prostituierte, die Fremden auf. So erfahren die Göttlichen, dass Gesellschaften noch lange keine solidarischen Gemeinschaften sind. Allerdings ignorieren die Himmlischen den allgemeinen Mangel an Mitmenschlichkeit, haben sie doch in Shen Te immerhin einen guten Menschen gefunden. Für grundsätzliche Ratschläge, die aus den existenziellen Krisen der Weltgesellschaft hinausführen könnten, fühlen sie sich offenbar nicht zuständig.
Stoff bleibt aktuell
Denn um ein Krisenstück handelt es sich nach den Worten der Regisseurin Charlotte Sprenger, die Brechts „Guten Menschen von Sezuan“ für das Mannheimer Nationaltheater als Eröffnungsvorstellung im „Alten Kino Franklin“ inszeniert. Zwar könne man die gegenwärtige Situation (Krieg in der Ukraine, Flüchtlinge, Klima-Wandel) nicht mit der Katastrophe vergleichen, die Brecht zwischen 1938 und 1942 erlebte, als er an seinem Text schrieb. Aber das schmälere keineswegs dessen Aktualität, betont Sprenger. Brechts Klagen über die Ungerechtigkeit in der Welt und seine Kritik an den Kältezonen des Kapitalismus, regten auch heute noch zum Nachdenken an. Lösungen seien nicht in Sicht. Schließlich habe bislang niemand eine überzeugende Antwort auf die Frage gefunden, wie man in einer schlecht eingerichteten Welt gut sein könne. Die lauen Zugeständnisse der Götter vor ihrer Abreise an die herzensgute, sich vergeblich nach Liebe und Geborgenheit sehnenden Shen Te, begreift Charlotte Sprenger eher als Versuch, zu vertuschen, dass absolutes Gutsein unter bestimmten politischen und wirtschaftlichen Bedingungen unmöglich ist. Entsprechend wird die ehemalige Prostituierte als spätere Fabrikbesitzerin weiterhin eine Doppelexistenz führen müssen, um in der Rolle des hartherzigen Vetters Shui Ta das ausbeuterische Spiel des Kapitalismus in Gang zu halten. Nur so könne Shen Te ihre Gläubiger bezahlen und die vielen Bittsteller unterstützen.
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Vom Abstand der Menschen zu den Göttern erzählt auch das Bühnenbild, ein ehemaliger Kirchenraum, der „nicht mehr von Religiosität bewohnt ist“, wie Charlotte Sprenger es formuliert. Hier, an diesem Ort unterschiedlichster Begegnungen, werden zu Beginn auch die Rollen verteilt. Auf diese Weise will Sprenger den Anfang des Stückes, der ihr bei Brecht zu funktional erscheint, als „Gedankenspiel entwickeln“.
Das Stück habe, zumal im ersten Teil, „enorme Schwächen“ konstatiert Sprenger. Dennoch schätzt sie seine „Klarheit“, die ähnlich wie bei Büchner oder Jelinek zu einer Haltung zwinge, zu einer konkreten Position. Es sei Brechts „schmerzhafte Genauigkeit“, mit der er die Figur der Shen Te ihrem bitteren Ende radikal entgegenspielen lasse. Ein Vorgang, den Charlotte Sprenger als Verweis auf eine „hoffnungslose Welt“ deutet, auf eine Ohnmacht und Ratlosigkeit, deren Unbedingtheit „Endzeitgefühle“ heraufbeschwöre.
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