Mannheim. Das muss man erst einmal hinbekommen. Um eine blecherne Industriehalle im vorortlichen Nirgendwo zum schlagenden Herzen einer Tanzcompagnie zu machen, braucht es viel Fantasie, Einsatz, gute Stimmung unter Kollegen, menschliche Wärme – und einen großen Hund. NTM-Tanzintendant Stephan Thoss und seiner Frau Romy ist dieses Architekturwunder gelungen. Das in Teilen einer alten ABB-Halle untergebrachte Tanzhaus Käfertal ist längst nicht nur eine Spielstätte, ein Proben- und Verwaltungszentrum, sondern auch zum echten Wohlfühlort mit Atmosphäre geworden, wo Publikum sozusagen „daheim beis Künstlers“ ist.
Aus Tänzerinnen und Tänzern besteht diese Familie hier, deren Oberhaupt darauf achtet, dass jedes der Kinder ausreichend gefördert und gefordert wird. Immer wieder lässt Stephan Thoss – auch außerhalb der sommerlichen Reihe „Choreographische Werkstatt“ – seine Compagnie-Mitglieder einzeln zum Zuge kommen. Diesmal ist es ein sechsteiliger Adventsabend zwischen Himmel und Erde geworden, der den Titel „Engelsgrüße“ trägt und von den Ensemblemitgliedern nicht nur getanzt, sondern eben auch choreografiert wird.
Zeitgenössischer Tanz ohne Kitsch mit choreografischen Miniaturen und mutigen Bewegungen
Wer sich fragt, ob Thoss und Team dabei vielleicht nicht doch in die wohlfeile vorweihnachtliche Kitschfalle tappen, kann beruhigt werden: Zu sehen ist zeitgenössischer Tanz ohne Flügelschlagen, Rauschgold und Zuckerguss.
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Recht irdisch ist etwa der Auftakt mit einer choreografischen Miniatur von Jessica Liu, die sich tänzerisch gemeinsam mit dem Kollegen Joseph Caldo gesichtsverhüllt auf die Aufgaben eines Schutzengels bezieht. Bodennah wagen sie unter subtiler Harfenbegleitung von Frauke Adomeit mutige, fast akrobatische Aufstehbewegungen. „Halb zog sie ihn, halb sank er hin“, ließe sich die Ästhetik nach Goethes „Fischer“ beschreiben, die letztlich erfolgreich zu einem gemeinsamen Aufbruch in die Zukunft führt.
Luis Tena Torres hat ein großes wie vielseitiges Ensemblestück beigetragen, das nichts weniger als eine zweite Lebenschance verspricht. Joris Bergmans lässt er dabei als mürrischen Manager im Alltag einer spanischen Großstadt scheitern – und buchstäblich unter die Räder kommen. Glocken läuten, Verkehr, Arbeitswelt und Menschen lärmen und streiten. Dieses Erzähltheater ist körpersprachlich prall und oszilliert abwechslungsreich, mit viel Latinità zwischen Säulenheiligen, Flamenco, einer Madonna im Strahlenkranz und der frohen Botschaft, die Routine im Alltag doch nicht ganz so todernst zu nehmen.
Lorenzo Angelini hat für sich und Emma Kate Tilson ein Duo zu Alphonse Hasselmanns „La Source“ choreografiert, das musikalisch wie emotional wieder von Frauke Adomeit unterfüttert wird. In himmelblauen Hosen und himmlisch gemusterten Oberteilen zeigen sie zu zweit nichts Geringeres als den ewigen Kampf zwischen Licht und Dunkelheit, Heiterkeit und Depression in einer Person. Wer hier führt und gerade die Oberhand hat, vollzieht sich choreografisch gekonnt auch in der Umkehrung klassischer Hebebewegungen und ausdrucksstarker Armarbeit.
Nach der Pause macht dann ein großartiges Solo von Leonardo Cheng den Auftakt zum zweiten Teil. Als gefallener Engel wälzt und krampft er sich am Boden. Nicht alle seine brüchigen Aufstehversuche gelingen. Zu schwer lasten Zweifel auf ihm. Sein Sinnbild einer Lebenskrise ist aufrichtig. Allmählich werden seine Bewegungen freier und weiter. Wer sich Krisen stellt, kommt weiter und höher – all das ist choreografisch und tänzerisch meisterhaft umgesetzt.
Albert Galindo und das Ensemble: Ein Höhepunkt in tänzerischer und historischer Ausdruckskraft
Von Lebenskrisen geschüttelt scheint auch Arianna di Francescos solistische Miniatur zu Bachs Goldberg Variationen. Kleinteilig und extrem schnell sind ihre Positionswechsel – so lange sie bei der Harfe Adomeits bleibt. Hernach zeigt der zweite Teil, dass Choreografieren, Tanzen, Singen und Sprechen in Summe dann noch etwas zu herausfordernd für sie sind.
Kommen wir zum unstrittigen Höhepunkt dieses sympathisch kleinteiligen Abends: Albert Galindos fulminantem Ensemblebeitrag, der nicht nur von choreografischer Begabung, sondern auch von historischer Informiertheit zeugt.
Umflossen von sieben Kolleginnen und Kollegen lässt er den nochmals auftrumpfenden Leonardo Cheng auf dem weichen Teppich stützender Gemeinschaft Fuß fassen. Besonders bestechend sind hier die Linien, die Galindo spinnt und deren tänzerisch fließende Umsetzung durch das Ensemble. Zuvor stellt sich die Frage der Perspektive der einzelnen zueinander, dann lässt er Tony Bennett fragen „An wen kann ich mich wenden, wenn keiner mich braucht?“ Das große Fallenlassen und Auffangen vollzieht er gefühlig zu Puccinis „Madame Butterfly“ mit einer großen kulturellen Geste der Geborgenheit.
Emma Kate Tilson wird vom Barhocker aus zu Michelangelos „Pietà“, auf deren Schoß Leonardo Cheng ruht und emotionalen Halt findet. Eine Geste, die im Tanz durch John Cranko ikonisch wurde. Dieser Adventsabend hat merkliches Wohlfühlpotenzial. Es mag auch mit am Hund, an den kleinen Snacks, dem Pausenglühwein oder den gemütlichen roten Sofas mit Beinfreiheit liegen, auf den man Platz nimmt. Sinn- und Beinfreiheit sind im Tanz eben nicht zu unterschätzen …
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