Wettbewerb

Mit diesem Text gewinnt die Mannheimerin Nora Antonic den Jugendpreis von "Erzähl mir was"

Von 
Nora Antonic
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© Getty Images/iStockphoto

Ich stoße erwartungsvoll die letzte Türe auf und stürme die letzten zwei Stufen hoch, die mich noch von meinem Eigen trennen. Ich ignoriere meine Mutter, die noch etwas anmerken will. Dann bin ich da. Mein Zimmer, die Freude sprudelt in meinem Körper. Alles ist so vertraut, hunderte Male betrachtet, umwandert, berührt. Aber… „Was?“ Stolpernd drehe ich mich zu meiner Mutter um. „Was ist das?“. Meine Stimme versagt, flüstert. Mein Zimmer, mein eigener Raum. Er ist anders, nicht wie ich ihn vor sechs Wochen verlassen habe. Unkontrolliert lasse ich mich zwischen meinem Rucksack und meiner Reisetasche auf den Boden fallen. Es gibt ein hässliches Geräusch.



Das hier muss ein Missverständnis, ein schlechter Traum sein. Ich knalle mit meinem Kopf auf die schwere Tasche. Meine Mutter hetzt mir entgegen, ihre Augen, besorgt aufgerissen, werden immer größer, kommen auf mich zu.

Wir wollten eine Überraschung für dich

„Kathi? Was ist denn bloß?“ Kurzerhand lässt sie erst meine Umhängetasche und dann sich selbst sanft neben mich auf den Boden sinken. Ich schließe die Augen. Atmen, ich muss atmen.

Es ist gelb. Alles gelb, gelb überall. Meine Wände sind gelb wie die Sonne. Ich hasse die Sonne, die Sonne hasst mich. Gelb, alles gelb.

„Warum habt ihr die Wände gelb gestrichen? Warum habt ihr mir nichts gesagt!“ Meine Arme stemmen zitternd mein Körpergewicht hoch von dem Taschen-Chaos.

„Katharina, warte. Wir wollten dir bloß eine Freude machen, glaube mir.“ Besänftigend legt sich eine warme, verschwitzte Hand auf meine verspannte Schulter. Verschwitzt, weil ich jetzt schon wieder stressig bin? Vielleicht sollten sie mich gleich wieder abschieben, denke ich wütend. „Wir wollten wirklich nur eine schöne Überraschung für dich.“ Ich richte meinen Blick bei ihren Worten wieder auf die Wand, die gelb ist wie die Sonne. Ich hasse die Sonne.

„Wir? Wer soll das sein, mein Psychiater und du?“ Ich weiß nicht, ob es eine Frage oder eine traurige Feststellung sein soll. Sie nimmt es als Feststellung hin. Als Feststellung, der sie nicht einmal zu widersprechen versucht.

© dms

Wie sehr ich die Sonne hasse. Wie sehr ich gelb hasse. Meine Mutter, besorgt wie sie ist, sagt noch etwas, aber ich bin wie taub. Taub lasse ich meinen Blick durch mein Zimmer wandern. Was ist anders, was wurde mir noch geraubt? Mein Flachbildschirm. An der Stelle, an der er früher hing, ist jetzt nur saubere Wand, gestrichen in diesem furchtbaren Gelb. Die warmen verschwitzten Hände meiner Mutter schütteln mich. Alles um mich herum wird gelb.

Ich hasse die Sonne. Ich schreie. Ich schreie. Ich schreie.

Zitternd stoße ich mich von meiner Mutter weg, renne hinaus aus meinem Zimmer. Renne weiter. Taub. Gelb. Ich weiß nicht, wohin ich will, wohin ich renne, denn ich habe hier nichts, rein gar nichts mehr, seit ich vor sechs Wochen gehen musste. Ich lasse mich auf den Boden fallen. Neben mir kämpft sich ein gelber Löwenzahn durch den Asphalt. Ich drehe mich auf die andere Seite. Ich hasse Gelb. Verschwommen ist mein Sichtfeld. Rau mein Hals. Hart der Boden unter meinem Kopf.

Der Himmel über mir ist wolkig grau. Ich stelle mir vor, er wäre dunkler, bewegt von einem Gewitter. Genauso gewaltig, drohend dunkelblau, wie das Meer und wie meine Wände. Früher waren sie so gewesen, aber jetzt sind sie sonnengelb. Ich hasse die Sonne. Die Sonne hasst mich.

"Nora über sich"

Mein voller Name ist Nora Julia Antonic. Am 18. März 2007 habe ich hier in Mannheim das Licht des Lebens erblickt. Sechs Jahre danach habe ich angefangen zu fechten und das erste Mal in einem Theaterstück unserer Ortsgruppe eine Statistenrolle zu spielen. Seit neuestem bin ich auch bei den Pfadfindern, was ich ebenfalls spaßig finde. Ansonsten sind mir das Lesen, meine Familie sowie Freunde unglaublich wichtig. Ich besuche die 8. Klasse des Liselotte-Gymnasiums.

Mit einem komischen Laut schließe ich die Augen. Zusammengekrümmt liege ich auf dem Boden, bin taub für alle Geräusche, für alle Gefühle.

„Hey, Mädel, alles klar? Ist ziemlich gefährlich, sich einfach so auf den Boden zu werfen.“ Ich drehe mich um, erschrocken, einen Laut zu hören.

Sommersprossen auf der Nase

„Ich bin Luca“, eine Hand wird mir entgegengereckt. Über mir steht ein Mädchen, das in Gelb leuchtet. Gelbes weit und kurz geschnittenes T-Shirt mit gelbem Seesack auf dem Rücken.

„Ach du meine Güte! Geh bloß weg mit deinem Gelb.“ Den ersten Satz erschrocken ausgerufen, habe ich den letzten nur gegrummelt. Von allen Menschen auf der Erde ist ausgerechnet eine nahezu vollkommen Gelbe darauf aus, mit mir zu reden.

„Hey, also ein wenig höflicher könnte man schon sein.“ Das Mädchen grinst und lässt sich schwerfällig neben mich auf den Boden fallen. „Oder ein wenig dankbarer.“

„Dankbarer für was?“ Sie lacht nur und legt sich auf den Rücken. Wir geben sicher ein seltsames Paar ab. Ein Mädchen, gelb gekleidet, mit geschlossenen Augen auf dem Boden liegend und ich, sitzend auf dem Boden vor einer Bushaltestelle.

„Ich heiße Katharina. Und ich hasse Gelb.“

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Ohne die Augen zu öffnen antwortet sie spöttisch: „Das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Aber die Frage ist ja eigentlich: Warum hasst du Gelb? Ich meine, Gelb ist doch eine schöne Farbe.“

Ich hasse Gelb. Und ich antworte nicht. Stattdessen sehe ich sie an. Sie hat viele kleine Sommersprossen auf der Nase, ihre Haare sind dunkel und locken sich über ihr gelbes Shirt. Sie hat ein einzigartiges Gesicht, auf eigene Art wirklich hübsch.

„Die Sonne“, stottere ich schließlich, „die Sonne ist gelb, und ich hasse die Sonne.“

Sie öffnet ihr eines Auge und sieht mich skeptisch an. „Sie könnte uns auf einmal umbringen. Sie ist gefährlich“, ploppt es aus mir heraus. Leicht verlegen senke ich meinen Blick auf die graue Hose, die ich trage.

„Irgendwie hasst du zu viele Dinge. Und ohne die Sonne wäre es noch gefährlicher, oder nicht?“ Ohne mich ausreden zu lassen, fährt sie fort: „Wir hätten nichts zum Essen und es wäre so kalt, dass wir nicht überleben könnten. Klingt nicht besser für mich.“

„Das kannst du so leicht sagen. Ich habe eben Angst vor ihr.“ Ruckartig setzt Luca sich auf und erschreckt mich mit dieser ruckartigen Bewegung, die ich nur als gelbe Schlieren in meinem Augenwinkel wahrnehme.

„Was für ein Quatsch! Du musst doch keine Angst vor der Sonne haben. Die Sonne ist toll. Und die Farbe Gelb auch.“

Ich zupfe bloß an meinem Schnürsenkel herum. „Ich habe trotzdem Angst. Und … meine Mutter hat mein ganzes Zimmer gelb gestrichen.“

„Würde ich mich drüber freuen.“ Als ich sie schockiert ansehe, legt sie ihren Kopf leicht schief. „Ist das das wirkliche Problem, oder ist es etwas anderes?“ Jetzt bin ich es, die sich nach hinten fallen lässt. „Willst du’s mir sagen, oder was?“

„Wenn ich es dir erzähle, bin ich wieder alleine. So war es bei allen meinen Freunden.“ Will ich es ihr erzählen? Ich mag Luca. Das spüre ich in meinem Atem, in ihrem Atem, in unserem Atem im Einklang. Ich kann ihr vertrauen. Ich weiß, dass ich mich noch nie so verbunden mit jemandem gefühlt habe. Ihr Gesicht dreht sich zu mir.

Schreien, das ist es, was ich will

„Bloß gut, dass wir keine Freunde sind.“ Sie grinst schon wieder, während Leute an uns vorbeiströmen, auf dem asphaltiertem Boden einer Bushaltestelle sitzend.

„Ich war in einer psychiatrischen Klinik, sechs Wochen lang. Und als ich wiedergekommen bin, das war heute, war alles anders.“ Sie unterbricht mich nicht, sie sieht mich nur aufmerksam an. „Meine Mutter hat mein Zimmer gelb gestrichen. Und meinen Fernseher abgehängt. Und bevor du etwas sagst, das hört sich zwar nicht schlimm an, aber das ist es.“ Die letzten Worte schreie ich.

Schreien, das ist es, was ich will. Und sie sagt nicht solche dämlichen Dinge wie: Schreien nützt dir rein gar nichts, Katharina, oder: Beruhige dich doch, Katharina. Wie sehr ich solche Sätze hasse. Fast so sehr wie die Sonne. „Es soll so bleiben, wie es war, ich will, dass meine Wände wieder dunkelblau sind, ich will meinen Fernseher, ich will zur Schule, ich will meine Freunde zurück.“ Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich hätte das nicht sagen sollen.

„Was bringt es dir, Freunde zu haben, die so idiotisch sind?“ Ich drehe meinen Kopf zu ihr. Sie sieht mich offen, aber ernst an.

Verwirrte Stimmbänder

„Ich weiß es nicht.“, schon wieder flüstere ich. Es ist, als könnten sich meine Stimmbänder nicht auf eine Lautstärke einigen, mal wollen sie schreien, dann schweigen. Sie sind genauso verwirrt wie ich.

„Und wieso glaubst du, hat deine Mutter deine Wände in Gelb gestrichen? Weil sie dich ärgern will? Also bitte, das glaubst selbst du nicht.“ Und sie hat Recht. Das glaube ich auch nicht.

„Sie wollte dir helfen, auf eine idiotische Art zwar, aber sie wollte dir helfen. Auch mit dem Fernseher. Ich tippe darauf, dass sie will, dass du mehr mit ihr machst. Beziehungsweise weniger alleine vor der Glotze hockst.“ Luca grinst jetzt wieder, und ich grinse mit. Keiner, kein einziger meiner Therapeuten oder Psychologen hätte sich je so unseriös wie sie ausgedrückt. Aber auch keiner hatte mir so geholfen wie sie. Ohne dass sie irgendetwas Besonderes gesagt hatte. Ich sehe sie noch an, das Mädchen im gelben T-Shirt, als sie sich plötzlich umständlich hochhievt und mich ansieht: „Das ist mein Bus, ich muss los. Mach’s gut Katharina, vielleicht sieht man sich mal wieder.“ Das Letzte, was ich von ihr sehe, ist ein gelber Seesack.

Als ich aufstehe und mich auf den Weg nach Hause mache, weiß ich noch nicht, wie sehr sie mir geholfen hat. Gelb ist auf einmal erträglich, mein Leben ist auf einmal erträglich.

Auch weiß ich nicht, dass ich sie noch einmal wiedersehen werde.

Sie, das Mädchen in Sonnengelb.

  • Mit dieser Geschichte ist die 14-jährige Nora Antonic Jugendsiegerin bei "Erwähl mit was", dem Schreibwettbewerb des "Mannheimer Morgen", dem Partnerverlag der Schwetzinger Zeitung.

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