Mannheim. Als am frühen Sonntagmorgen irgendwann tatsächlich die letzten Lichter ausgehen und der 12. Mannheimer Brückenaward schließlich Geschichte ist, hat das etwas von Unwirklichkeit. Denn auch, wenn eigentlich offensichtlich erkennbar ist, dass seit der ersten Ausrichtung dieses Liebhaber-Festivals 2010 bereits mehr als ein Jahrzehnt vergangen ist - wie vertraut einem die Atmosphäre unter der Eisenbahnbrücke in der Mannheimer Neckarstadt unlängst erscheint, erstaunt jedes Mal auf’s Neue.
Der Mannheimer Brückenaward setzt auf Mundpropaganda
Vielleicht liegt das haargenau daran, dass an diesem Ort so vieles so selbstverständlich anders gemacht wird als bei den Festivalgiganten dieser Republik. Denn anstatt mit stattlichem Werbebudget und ausgefeilten Marketing-Konzepten von sich reden zu machen, setzt der Brückenaward auf Mundpropaganda.
Die Bühne direkt vor Ort haben - bis unmittelbar vor Beginn - in stundenlanger Kleinarbeit keine standesgemäß honorierten Bühnentechniker, sondern ehrenamtliche Kulturliebhaber gemeinsam mit Festivalchef Martin Feige auf die Füße gestellt, ohne dabei auch nur zu erwarten, dass ihre Namen dafür auf Festivalplakaten groß gedruckt in der Dankesspalte erschienen. Und gigantomanische Bühnentechnik? Die wird seit Beginn des Formats von analogen Form- und Farbeffekten des Duos Liquid Lisa/Projector Pearson so virtuos unter die Brücke projiziert, wie das kein hochmoderner LED-Scheinwerfer jemals vermochte.
Güterzüge rattern über die Brücke
Gefühlt alles auf dem Wiesen-Areal direkt am Neckar schreit an den beiden Brückenaward-Tagen: Liebhaber, versammelt euch! Unter normalen Umständen müsste man fast sagen, dass die Bandauswahl zur Randnotiz gerät - würde nicht auch hier auf eine Güte und Kreativität geachtet, wie man sie im Low-Budget-Bereich der Neuentdeckungen oder regionalen Größen kaum andernorts erleben darf.
Bereits die genretechnischen Wechselläufe, mit denen die bisher fast gänzlich unbekannten Musiker der Combo FAT zwischen Jazz und Ambient Noise changieren, sind hier jede Erwähnung wert - und finden in der Elektro-Avantgarde des Mannheimers Julian Maier-Hauff ihr wunderbares Pendant. Für wahrhaft einzigartige Eindrücke, die weit über den Augenblick hinausreichen, sorgen jedoch Auftritte wie der der Krautrock-Formation Die Rauchenden Spiegel, die unter der Brücke nicht nur ihre just auf Vinyl veröffentliche EP „DRS“ mitgebracht haben, sondern - im besten Sinne des Wortes - für Entgleisung sorgen. Da mögen die Güterzüge in noch so einmütiger Zuverlässigkeit und Konstanz über die Brücke rattern: In der Melange aus visueller Trance und akustisch-psychedelischer Progressivität werden alle sonst so penibel eingehaltenen Grenzen menschlicher Zurückhaltung plötzlich obsolet. Es wird geküsst und getanzt, es wird gesungen und gesoffen - kurzum: Es wird gelebt.
Keine sozialen Muskelspiele beim Mannheimer Brückenaward
Wenn man so möchte, ist der Brückenaward auf diese Weise eine musikalische Demonstration im doppelten Sinne. Denn einerseits zeigen die Besucher - ob Überzeugungstäter oder spontan dazugekommen - durch ihre bereitwillige Aufgabe jeder Zurückhaltung, dass sie keineswegs aufmarschieren müssen, um aller deutlichst zum Ausdruck zu bringen, dass sie für gesellschaftliche Muskelspiele zwischen Luxus und Status nicht zu haben sind. Andererseits wird das Festival selbst dadurch zu einer Machtdemonstration, die unmissverständlich belegt, dass auch und gerade in einer Welt, die einem allzu oft suggeriert, alles Erstrebenswerte sei nur gegen Bezahlung zu haben, ein aufrichtiges, kostenfreies Format ein wahrer Trumpf sein kann. Zwar mag man über Geschmäcker immer diskutieren - und wenn die Pfälzer Jungs von Geld Et Nelt in schrill-skurriler Robe über die Farbvielfalt von Erbrochenem philosophieren oder pflichtbewusst befinden: „Für Arbeit ham’ wir keine Zeit!“ - dann gehört das sicherlich in die Kategorie „Kann, aber muss nicht“.
Grandioses Ausrufezeichen
Trotz allem darf man befinden, dass kulturelle Vielfalt auch die extremen Ränder beleuchten muss, wenn sie als authentisch divers verstanden werden will. Grandiose Synth-Rock-Auftritte wie die der Heidelberger von Buddha Sentenza gleichen Komisches bis Fragwürdiges aber nicht nur quasi mühelos aus, sondern zeigen auch, dass Regionalität kein verlegener Verzweiflungsakt, sondern auch ein ganz bewusstes Bekenntnis sein kann. Was für ein grandioses Ausrufezeichen!
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