Festivalabschluss

Man spricht Deutsch auf der 73. Berlinale

Nicolas Philibert gewinnt mit „Sur l'Adamant“ den Goldenen Bären der 73. Berlinale. Angela Schanelec, Christian Petzold und Thea Ehre werden mit Silbernen Bären prämiert

Von 
Gebhard Hölzl
Lesedauer: 
Einige der Preisträger (v.l.): Thea Ehre, Helene Louvart, Milena Poylo, Nicolas Philibert und Gilles Sacuto bei der Abschlussgala g der 73. Berlinale. © Breuel-Bild/Jason Harrell

Das Beste kommt zu Schluss. Sagt man. In Bezug auf die 19 Wettbewerbsbeiträge kann man das durchaus so sehen. Mit „Bis ans Ende der Nacht“ wurde die Konkurrenz nach zehn Tagen finalisiert. Ob das ein cleverer Coup des Künstlerischen Leiters Carlo Chatrian war, oder - wie gemunkelt wurde - nur dem Umstand geschuldet, dass der Film erst in letzter Minute fertiggestellt werden konnte, sei dahingestellt. Sicher ist, dass Christoph Hochhäuslers Werk von der heimischen Kritik mit Spannung erwartet wurde. Was nicht zuletzt daran liegt, dass seine letzte Kinoproduktion „Die Lügen der Sieger“ aus 2014 datiert.

Beste Nebenrolle als Transfrau

Einen Metakrimi legte er bei seinem ersten Auftritt an der Spree vor. Held ist ein schwuler verdeckter Ermittler (Timocin Ziegler), der gerne zu ungewöhnlichen Mitteln greift. Um einen Internet-Drogenhändler (Michael Sideris) dingfest zu machen, braucht er die Hilfe einer Transfrau, stimmig verkörpert von Thea Ehre, der der Silbernen Bären für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle zu Teil wurde. Er verspricht ihr eine vorzeitige Haftentlassung, wenn sie ihn unterstützt.

Alles läuft nach Plan. Ihre fingierte Affäre scheint ans Ziel zu führen. Doch da kommt die wahre Liebe ins Spiel ... Ein typischer Genreplot, mit dem Unterschied, dass man es nicht mit einem Polizei-, sondern einem Autorenfilm zu tun hat. Reizvoll wird mit den Versatzstücken der Gattung jongliert. Ein Vexierspiel, das an Rainer Werner Fassbinders Gangsterfilme, etwa „Liebe ist kälter als der Tod“, erinnert.

Insgesamt erwiesen sich alle heimischen Einreichungen den Mitbewerbern als ebenbürtig. So wurde Angela Schanelec für das Drehbuch zu ihrer „Ödipus“-Variante „Music“ mit dem Silbernen Bären prämiert, während Publikumsliebling Christian Petzold für sein tragikomisches Beziehungsstück „Roter Himmel“ mit dem Großen Preis der Jury belohnt wurde.

Allein diese beiden Auszeichnungen relativieren die häufig geäußerte Kritik vom Übergewicht deutscher Produktionen. Sie greift zu kurz. Fünf Stück. Weder in Cannes noch in Venedig würde sich jemand über diese Zahl nationaler Filme beschweren. Mehr noch, man wäre stolz darauf.

Mehr zum Thema

Kommentar Die Berlinale 2023: Fast auf dem richtigen Weg

Veröffentlicht
Kommentar von
Gebhard Hölzl
Mehr erfahren
Berlinale

Themen am Puls der Zeit und ein enormer Stilwillen

Veröffentlicht
Von
Gebhard Hölzl
Mehr erfahren

Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, gehen auch die rund 40 weiteren gezeigten deutschen Filme - von insgesamt circa 290 - in Ordnung. Starke Arbeiten waren darunter, wettbewerbswürdig - was immer wieder zur Frage führte, warum es mancher Film nicht ins Bären-Rennen geschafft hatte. So etwa „Im toten Winkel“ der Deutsch-Türkin Ayse Polat, gezeigt in der Sektion Encounters. Ein Politthriller, der vom kurdischen Trauma der Gewalt erzählt. Oder Frauke Finsterwalds Panorama-Highlight „Sisi & Ich“, eine ungewöhnliche Annäherung an die österreichische Kaiserin, besetzt mit Sandra Hüller und Susanne Wolff. Nicht zu vergessen das schweißtreibende, in der Berlin-Gropiusstadt verortete Jugenddrama „Sonne und Beton“ von David Wnendt nach dem Roman von Comedy-Star Felix Lobrecht, befeuert von einem harten Rap-Soundtrack.

Überraschend gewann der französische Dokumentarfilmer Nicolas Philibert für „Sur l’Adamant“ den Goldenen Bären. Er beobachtet das Treiben auf einer auf der Seine schwimmenden psychiatrischen Klinik. Man lernt Betreuende, Patientinnen und Patienten kennen, begleitet sie durch ihren Alltag. Ruhig und unaufgeregt verfolgt vom Filmemacher, der sich immer wieder mit Fragen direkt ins Geschehen einschaltet. Es liegt der Verdacht nah, dass die Jury um Kristen Stewart eher das Thema als die Umsetzung ansprach. Wie auch immer, keine schlechte Wahl. Ebenso wie der Silberne Bär für die Beste Schauspielerische Leistung an die erst achtjährige Leinwanddebütantin Sofía Otero, die in „20 000 especies de abejas“ einen Jungen spielt, der sich auf der Suche nach seiner geschlechtlichen Identität befindet.

Über den Preis der Jury durfte sich der Portugiese João Canijo für „Mal Viver“ freuen. Fünf Frauen betreiben gemeinsam ein Hotel, ein lange zurückliegender Konflikt führt nach der Ankunft der Enkelin zu Spannungen und Streitereien. Ein streng komponiertes, melancholisches Melodram, laut Chatrian mit der altehrwürdigen Herberge als eigentlichem Protagonisten - mit einem Schwesterfilm in der Reihe Encounters, der die Geschichte aus anderer Perspektive aufrollt. Der Regiepreis wäre ebenfalls denkbar gewesen.

Die Preisträger der 73. Berlinale

  • Goldener Bär für den Besten Film: „Sur l’Adamant“ („On the Adamant“) von Nicolas Philibert
  • Silberner Bär Großer Preis der Jury: „Roter Himmel“ („Afire“) von Christian Petzold
  • Silberner Bär Preis der Jury: „Mal Viver“ („Bad Living“) von João Canijo
  • Silberner Bär für die Beste Regie: Philippe Garrel für „Le grand chariot“ („The Plough“)
  • Silberner Bär für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle: Sofía Otero in „20 000 especies de abejas“ („20,000 Species of Bees“) von Estibaliz Urresola Solaguren
  • Silberner Bär für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle: Thea Ehre in „Bis ans Ende der Nacht“ („Till the End of the Night“) von Christoph Hochhäusler
  • Silberner Bär für das Beste Drehbuch: Angela Schanelec für „Music“ von Angela Schanelec
  • Silberner Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung: Hélène Louvart für die Kamera in „Disco Boy“ von Giacomo Abbruzzese 

Regiepreis für Familiendrama

Der wurde jedoch Philippe Garrel für „Le grand chariot“ überreicht, für sein sanftes Familiendrama um eine Puppenspielertruppe. Der Silberne Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung fiel dieses Jahr Hélène Louvart für ihre Kamera in „Disco Boy“ von Giacomo Abbruzzese zu. Zwischen Paris und dem Nigerdelta pendelt der im Söldnermilieu angesiedelte Erstling und überrascht mit einem Französisch sprechenden Franz Rogowski („Transit“), der sich als Weißrusse Aleksei von der Ukraine nach Frankreich durchschlägt. In der Fremdenlegion sucht er einen Neuanfang, trifft in Afrika auf den Revolutionär Jomo, als dessen Wiedergänger er sich entpuppt. Eine Reise ans Ende der Nacht mit Anklängen an „Apocalypse Now“. Der deutsche Mime wurde als Preisträger gehandelt, ging aber ebenso leer aus wie die Kritikerfavoriten „The Survival of Kindness“ und „Past Lives“.

Freier Autor Gebhard Hölzl, Print-/TV-Journalist, Autor und Filmemacher.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen