Berlinale

Themen am Puls der Zeit und ein enormer Stilwillen

Von der sperrigen Ödipus-Adaption "Music" über den indigenen Thriller "Limbo" bis zum sensiblen Coming-of-Age-Drama "20 000 especies de abejas" - diese Filme haben Chancen auf einen Preis bei den Filmfestspielen in Berlin

Von 
Gebhard Hölzl
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Der Schwarz-Weiß-Film „Limbo“ mit Simon Baker (bekannt aus „The Mentalist“) gehört zu den insgesamt 19 Wettbewerbsfilmen der Berlinale. © Bunya Productions

Angela Schanelec ist eine Regisseurin mit sperrigem, kühlen Stil. Das heißt nicht, dass ihre Filme schlecht sind. Davon zeugt schon, dass sie auf der 69. Berlinale für „Ich war zuhause, aber ...“ mit dem Silbernen Regie-Bären ausgezeichnet wurde. Stets überaus verkopft ist ihr Ansatz, entsprechend die Umsetzung. In „Music“, dem dritten deutschen Beitrag im diesjährigen Wettbewerb, beschäftigt sie sich mit dem Ödipus-Mythos. Aufbereitet als Rätsel, Traum, Puzzle. Von den 1980er Jahren bis heute spannt sich zeitversetzt die Handlung. Von den Stränden und Bergen Griechenlands geht es an die Seen und in die Stadtlandschaft Berlins. Nüchtern, ein wenig blutig, barock und elliptisch. Lange Einstellungen, ungewohnte Perspektiven, wenig Worte – die Dialogebene wird weitgehend durch Lieder des Songwriters Doug Tielli ersetzt.

Ein Autorenfilm reinsten Wassers, der der bekannt experimentierfreudigen, aufgeschlossenen Jury-Chefin Kristen Stewart durchaus gefallen könnte. Wie auch „Roter Himmel“ von Christian Petzold, der wie seine heimische Kollegin der sogenannten Berliner Schule zugerechnet wird. Eine Frau und drei Männer verbringen ein paar Sommertage an der Ostsee, später stößt noch ein Verleger in Person des souverän agierenden Matthias Brandt hinzu. Drei haben Spaß – im Meer, beim Trinken, im Bett. Der Vierte im Bunde, Schriftsteller Leon (Thomas Schubert) quengelt, verbreitet schlechte Laune, während es in den Wäldern um das idyllisch gelegene Ferienhaus lichterloh brennt. Ein tragikomisches, effizient umgesetztes Beziehungsstück mit schreiend komischen Momenten. Petzold setzt damit seine Elemente-Trilogie fort. Nach „Undine“ erneut mit der 2020 mit einem Silbernen Bären prämierten Paula Beer als Eisverkäuferin Nadja, die sich als klug-empathische Literaturstudentin entpuppt.

Frage nach der Identität

Im aktuellen Trend liegt die Regiedebütantin Estibaliz Urresola Solaguren – eine der insgesamt sechs Filmemacherinnen im Wettbewerb – mit „20 000 especies de abejas“ (20 000 Bienenarten). Ihr Drama um Geschlechterfragen spielt im Baskenland. Der achtjährige Aitor (liebenswert: Sofía Otero) mag seinen Namen nicht, stört sich aber auch daran, dass ihn alle Cocó rufen. Die Künstlermutter, zerrissen gespielt von Patricia López Arnaiz, versucht, ihn bei seiner Identitätssuche zu unterstützen, hat aber selbst schwerwiegende Probleme. Eine ruhig entwickelte Geschichte mit primär weiblicher Besetzung – was ermöglicht, die unterschiedlichen Facetten des Frauseins auszuloten. Vor allem aber thematisiert die vielversprechende Newcomerin einen weniger augenfälligen Aspekt der Gender-Transition: die eigene Mentalität.

Ein ebenfalls zeitnahes, brisantes Sujet greift „Sur l’Adamant“ auf. Der erfahrene französische Dokumentarfilmer Nicolas Philibert, hierzulande am ehesten durch seinen Dorfschulfilm „Sein und Haben“ bekannt, begibt sich in Paris an Bord der titelgebenden schwimmenden psychiatrischen Tagesklinik. Dort beobachtet er Patienten und Pfleger, verwickelt sie in Gespräche, verfolgt Malstunden, lauscht Musikaufführungen und hält fest, wie die Kranken und ihre Betreuer neue Wege des Miteinanders finden. Ein unaufdringlich neugieriges Werk.

Indigener Neo-Noir-Western-Mix

Als formal spannend – und schleichend packend – erweist sich „Limbo“ aus Australien. Der indigene Regisseur Ivan Sen debütierte 2002 mit „Beneath Clouds“ an der Spree, wohin er nun mit seinem Neo-Noir-Western-Mix zurückgekehrt ist. Als Drehbuchautor, Editor, Komponist, Koproduzent und Kameramann fungiert er bei seinem bildstarken Schwarz-Weiß-Film. Der drogenabhängige Polizist Travis Hurley, maulfaul und müde verkörpert von Simon Baker, sucht den Mörder einer vor 20 Jahren verschwundenen Aborigine-Frau. Die Bewohner der Outback-Kleinstadt schweigen. Denn der Ermittler ist weiß und die Wahrheit komplex. Von Opal-Minen durchlöchert ist die Landschaft, aufgerissen, geschunden wie die Menschen, die hier leben. Ein First-Nation-Drama, gnadenlos und depressiv, bei dem der Ermittler auf seinen endlosen Autofahrten den salbungsvollen Worten von Radioevangelisten lauscht und durch sie auf die Spur zum Täter geleitet wird.

Die richtige Bären-Wahl zu treffen wird alles andere als einfach sein.

Freier Autor Gebhard Hölzl, Print-/TV-Journalist, Autor und Filmemacher.

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