I
Mannheim. Seit Wochen bekam ich beim Surfen im Internet nervige Werbung, die mich verblüffte. Woher wussten die, wie alt ich schon bin? Mittelchen gegen Rheuma wurden angepriesen, Potenzpillen, Geldanlagegespräche in der Richtung „Wieviel Ersparnisse brauchen Sie, um von den Zinsen leben zu können“, Hörgeräte, Treppenlifte und was sonst noch alles für besorgte Rentner.
Irgendjemand saß mir offenbar neugierig auf der Schulter, sobald ich meinen Computer anknipste. Und er las mit und analysierte mich. Meine Güte, zum Psychodoktor gehe ich selbst erst, wenn ich es will. Der wagt es auch nicht, mir ungefragt irgendwelche Pillen zu verschreiben und Rezepte zu schicken. Meinen unsichtbaren Mitleser und Psychoanalytiker kann ich natürlich loswerden, indem ich meinen Computer auf den Müll werfe. Aber damit säge ich den Ast ab, auf dem ich mittlerweile sitzen muss, um gesellschaftlich zu überleben. In Nachrichtensendungen, in Prospekten, bei Versicherungen und sonst wo werde ich immer auf deren Webseite verwiesen, wenn ich etwas mehr wissen will. Meine Steuererklärung muss ich inzwischen digital einreichen. Mit Menschen auf einer Behörde oder Firma zu sprechen, wird immer schwieriger. Ein schwarzes Loch verschluckt alles in ein digitales Universum. Meine Enkel würden sicher später vorwurfsvoll fragen: „Opa, was hast du denn dagegen unternommen, wenn du das alles so scheiße gefunden hast?“ Hätten sie Recht. Also statt Maulen wollte ich gegen Ende meines recht bürgerlichen Lebens mal den Geruch von Abenteuer atmen. Da ich rechtsschutzversichert war, kam als Schlachtfeld ein Gerichtssaal in Frage. Kostete nichts, höchstens Nerven.
Der Autor Bernhard Firgau
Bernhard Firgau ist 1954 in Heidelberg geboren und Pensionär. Er war viele Jahre als Notar tätig. Daneben beschäftigt er sich ausgiebig mit Astrologie. Derzeit lebt er in Weinheim zusammen mit seiner Frau. Sie haben zwei erwachsene Söhne.
Bald war es soweit und der Termin beim Amtsgericht stand fest.
II
„Euer Ehren, ich beantrage, den Bekl. zu verurteilen, mich nicht weiter zu stalken und mir auch nicht meine Identität zu stehlen.“ Ich war überzeugt, diesen Prozess zu gewinnen. Immerhin hatte mein Anwalt mir 90 Prozent Erfolgsaussicht bestätigt. Er war seit zehn Jahren auf diesem Gebiet tätig, musste es ja beurteilen können. Was sage ich, nicht „er“ sondern „es“. Mein Anwalt war ja nur ein stromdurchflossenes Etwas. Es nannte sich Anwalts-KI Nr. 17, weil es die 17. Zulassung als künstliche Anwaltsintelligenz im hiesigen Gerichtsbezirk bekommen hatte. Bei Suudel im Internet hatte es meistens fünf Punkte bekommen. Meine Nr.17 hatte ausgezeichnete Beziehungen zu juristischen Datenbanken. Also alles im grünen Bereich. Dachte ich. Als ich nochmal hochschaute begegnete ich den streng blitzenden Augen des Richters unter seinen jetzt grimmig zusammengezogenen Brauen.
„Was haben sie sich eigentlich dabei gedacht, einen Haufen Blech und Plastik zu verklagen? Ihr Gegner ist ja nur ein Laptop, der an der WLAN-Nabelschnur anderer Intelligenzen hängt. Also quasi minderjährig. Als totes Ding kann er sowieso nicht belangt werden. Er hat keine Rechte und keine Pflichten, kann also nicht vor Gericht gestellt werden.“
Mein Gegner hatte nun Oberwasser. Sein willfähriger Angestellter, der ihn wie einen Hund auf dem Arm hielt und wie ein Anwalt eine lächerliche schwarze Robe trug, krähte gleich „genau das haben wir dem Kläger von Anfang an gesagt“ dazwischen und hielt den von mir verklagten Laptop drohend in die Höhe. Dabei zeigte er mit dem ausgestreckten Finger auf seinen digitalen Herrn und forderte, meine Klage abzuweisen. Ich wagte einzuwenden, dass auch eine tote Sache Rechte und Pflichten haben könne. Der Kölner Dom, ein Klotz aus leblosem Stein, gehöre laut Grundbuch sich selbst und man kann sogar eine GmbH, ein künstliches Ding aus vier Buchstaben, vor Gericht bringen.
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Euer Ehren schnaubte unwillig. Er schloss die heutige Verhandlung und rauschte davon.
Dabei war mir nicht entgangen, dass auch er einen Laptop unter dem Arm aus dem Saal trug. Wer war eigentlich mein Richter, wer Herr und wer Diener dieser Verbindung von Mensch und Maschine, die da gerade hinter sich die Tür zufallen ließ? War ich das einzig beseelte Wesen in dieser Verhandlung gewesen? Nach diesem entmutigenden Termin packte ich meine Sachen und schlich nachhause.
III
Am nächsten Tag setzte ich einen Befangenheitsantrag gegen den Richter auf. Da er selbst auf eine künstliche Intelligenz zu hören schien, muss doch jeder normale Mensch den Eindruck haben, er sympathisiere von vorneherein mit meinem Gegner. Diesen Pfeil schoss ich per E-Mail ab ins elektronische Postfach des Gerichts.
Diesen Richter wollte ich nicht mehr sehen, er kam mir aber zuvor. Denn er ordnete das schriftliche Verfahren an ohne mündliche Verhandlung. Er wollte mir wohl auch nicht mehr gegenübertreten. Außerdem präsentierte er in der Antwortmail den Beschluss seines Vertreters, der meinen Befangenheitsantrag abschmetterte. Alles Bla-Bla. Die Krönung: Die Verwendung von digitalen Hilfsmitteln sei objektiver als emotionale Unsicherheiten, wenn „humanbasierte“ Entscheidungen getroffen würden.
Nach einigem Hin und Her per E-Mail fiel dann die eigentliche Entscheidung:
„URTEIL:
Im Namen des Volkes (ehrlicherweise hätte es heißen müssen „Im Namen von Bits und Bytes“) :
Die Klage wird abgewiesen.
Gründe:
Eine künstliche Intelligenz kann man nicht vor Gericht bringen.
Davon abgesehen ist der Antrag unbegründet. Der Kläger fühlt sich vom Beklagten gestalkt, weil dieser angeblich alle seine Äußerungen in Social Media verfolgt, analysiert und sogar kommerziell an unbekannte Dritte verkauft. Diese völlig lächerliche Behauptung muss gar nicht weiter bewiesen oder widerlegt werden. Sie ist ohne jede Bedeutung. Denn nicht der Kläger stellt zu den Netzwerken Kontakte her, sondern sein Computer. Der würde gestalkt, wenn überhaupt irgendjemand. Dann müsste er vor Gericht ziehen, was er aber gar nicht kann.“
In Gedanken hörte ich den Computer und den Richter sich gemeinsam kaputtlachen. Jetzt war ich irgendwie rechtlos. Mein Menschsein wurde völlig verleugnet und an meiner Stelle meine elektronische Umgebung zum Gesprächspartner erklärt. Als hätte ich plötzlich einen digitalen Vormund bekommen, so fühlte es sich an.
IV
Heute früh stieg ich aus der Dusche, begrüßte noch ungekämmt mein Spiegelbild und sagte ihm: Nächstes Jahr zum Geburtstag trage ich die Sieben vorneweg und muss nicht mehr zu lange warten, bis ich mich aus der digitalen Welt verabschieden darf. Mein Gegner konnte sich selbst nicht sehen, arme Sau, und auch nicht mit sich selbst sprechen. Wenn es ihm zu blöd werden sollte, konnte er nicht mal selber den Stecker ziehen. So wie man es früher kleinen Kindern beigebracht hat, darf er auch nur reden, wenn er gefragt wird.
Wenn mich die Künstliche Intelligenz bei jeder Gelegenheit dumm da stehen lässt, drehe ich mal den Spieß um. Ich frage sie mittlerweile alle zwei Wochen wer den Softwareriesen SAP gegründet hat und lache dann jedes Mal über die falsche Antwort. Von den fünf Gründern ist mindestens ein Name falsch. Wenn ich darauf verweise, entschuldigt sich das System und nennt einen der Gründer doppelt. Richtig bekommt es die Antwort einfach nicht hin. Das kann ich wochenlang wiederholen, ohne dass es besser wird. Da ist ja Wikipedia schlauer. Schlimmer, als von einer KI gesteuert zu werden, ist es, von einer dummen KI gesteuert zu werden, die alle für gescheit halten.
V
Inzwischen habe ich meine Anwalts-KI Nr. 17 konsultiert. Natürlich konfrontierte ich sie mit dem schlechten Ausgang des Verfahrens. Als erstes kam der blöde Satz, den ich aus der KI im Internet schon kannte: „Es tut mir leid, dass meine frühere Auskunft nicht zutreffend war. Ich hoffe, sie hatten keine Unannehmlichkeiten. Sie können mir jederzeit weitere Fragen stellen.“
Also Frage: „Soll ich Rechtsmittel gegen das Fehlurteil einlegen?“
Sofort bewegte sich der Cursor auf dem Bildschirm und ratterte seine Empfehlung. „Legen Sie Beschwerde ein. Aber ich weise darauf hin, dass Rechtsangelegenheiten von den Vertretern dieses Berufes oft unterschiedlich betrachtet werden und Wertungen eine große Rolle spielen. Als KI kann ich das nicht, weil ich nur Fakten nennen kann.“
Da hätte ich die KI gleich fragen können, ob ich wegen der Beschwerde gegen das Urteil einen Astrologen das Horoskop stellen lassen soll. Mit Rücksicht auf meinen Blutdruck habe ich dann davon abgesehen, in die nächste Instanz zu gehen. Lieber schlage ich die KI mit ihren eigenen Waffen, um das digitale Stalken zu unterbinden. Jedes Mal, wenn ich mit meinem Computer ins Internet gehe, schaue ich bei Suudel nach Gegenständen, die zu einem anderen Persönlichkeitsprofil passen. Ich suche nach Filzstiften, Tintenkiller und Kinderfahrrädern oder Bikinis und künstlichen Wimpern. Wenn ich irgendwo einen Benutzernamen eingeben muss, nehme ich Harry Potter und als Geburtsdatum 1.1.2000. Seitdem bedrängt mich das Internet nicht mehr, einen Treppenlift zu kaufen oder Warzenstifte. Digitale Guerillataktik zur Verschleierung meiner Identität im Netz ist eben durch nichts zu übertreffen.
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