Mannheim. Kurz nach acht, der Jubel ist gigantisch in der ausverkauften Mannheimer SAP Arena: Herbert Grönemeyer muss dafür nur die Bühne betreten – allein. Beim Bad in den Ovationen von rund 10 000 wie auf Knopfdruck euphorischen Fans schreitet die Deutschrock-Institution genussvoll über den kurzen Steg zur vorgelagerten Rundbühne. Und setzt sich an ein Klavier, das just in dem Moment aus dem Boden fährt. Nach der für einen Arena-Konzertauftakt erstaunlich puristischen Pianoballade "Tau" zeigt „Herbie“ im tosenden Applaus die erste Becker-Faust des Abends. Und dann startet ansatzlos mit donnernden „Ooho-Hoos“ die ganz große Sause mit dem donnernd mitreißenden „Das ist los“.
Es ist der Titelsong der Tour und des aktuellen Grönemeyer-Albums. Der Text zeigt wieder einmal, wie glänzend es der 67-Jährige versteht, fast wie ein singender Journalist die Zeitläufte einzuordnen und mit klarer humanistischer Haltung zu kommentieren: „Und immer wieder Neuanfang / Die Welt dreht sich im Schleudergang / Bankenkrise, Emirat / Schuldenbremse, Windradpark / Lifehacks, Burnout, Horoskop / Cis, binär und transqueerphob (...) Jeder sieht sich, jeder schreit / Hundert Jahre Eitelkeit / Orbán, Le Pen, Rasputin / Wer ist die nächste Killerqueen?“ Eigentlich ist damit schon fast alles gesagt. Aber der gebürtige Bochumer hat in den fast drei Stunden viel vor. Vor allem, die enorme Herzlichkeit seiner Fans aufzusaugen und als pure positive Energie zurückzugeben. Was – wie immer – eindrucksvoll gelingt.
„Das hat noch keiner hingekriegt“
„Mann, was ein Anfang!“, jubiliert Grönemeyer zur Begrüßung und setzt eher nachdenklich mit „Bist du da“ und dem intensiv mitgesungenen und -geklatschten „Sekundenglück“ („Wie ihr klatscht! Das hat noch keiner hingekriegt!“) vom großartigen Vorgängeralbum „Tumult“ (2018) fort. Unterbrochen von einem weiteren Euphorieausbruch: „Wunderbar, wunderbar. Wow! Ihr seid sehr, sehr herzhaft.“ Und „Mannheim! Musikalität ganz groß!“
Grönemeyers „Das ist los“-Tournee: Das Programm in der SAP Arena
Hauptteil
1. Tau (2023)
2. Das ist los (2023)
3. Bist du da (2018)
4. Sekundenglück (2018)
5. Kopf hoch tanzen (2007)
6. Steigerlied (Volkslied)
7. Bochum (1984)
8. Männer (1984)
9. Was soll das (1988)
10. Vollmond (1988)
11. Eine Tonne Blei (2023)
12. Der Schlüssel (2023)
13. Doppelherz / Iki Gönlüm (2018, Duett mit BRKN)
14. Musik nur wenn sie laut ist (1983)
15. Oh Oh Oh (2023)
16. Herzhaft (2023)
17. Der Weg (2002)
18. Behutsam (2023)
19. Deine Hand (2023)
20. Mensch (2002)
21. Alkohol (1984)
22. Angstfrei (2023)
23. Bleibt alles anders (1998)
Erste Zugabe
24. Turmhoch (2023)
25. Flugzeuge im Bauch (1984)
26. Zeit dass sich was dreht (2006)
Zweite Zugabe:
27. Urverlust (2023)
28. Halt mich (1988)
29. Demo (Letzter Tag) (2002)
Dritte Zugabe
30. Mein Lebensstrahlen (2018)
31. Land unter (1993)
32. Mambo (1984)
33. Morgen (2014)
34. Immerfort (2018)
35. Einmal nur in unserem Leben (2016)
Die Grönemeyer-Band
Alfred Kritzer (Keyboards), Norbert Hamm (Bass), Armin Rühl (Drums), Jakob Hansonis und Stephan Zobeley (Gitarren). Dazu kommen auf dieser Tour Markus Zimmermann (Gesang), Reiner Scheithauer (Keyboards), Thorsten Skringer (Saxofon), Marc Essien (Percussion).
Er setzt nun mal gern Ausrufezeichen. Bemerkenswert ist auch deshalb die Zusammenstellung der Setlist, die für einen Star mit rund 40 Jahren Hit-Geschichte erstaunlich wenig rückwärtsgewandt ist: 16 (von 35) Songs stammen von den jüngsten beiden Alben, elf von „Das ist los“. Dabei ist das 16. das erste Grönemeyer-Album seit der Edo-Zanki-Produktion „Gemischte Gefühle“ (1983), das nicht auf Platz eins der Charts gelandet ist. Aber nur, weil Depeche Mode am selben Tag ebenfalls veröffentlichten.
Bewährtes Hit-Triumvirat aus "Männer", Was soll das" und "Vollmond"
Da die neue Platte sehr ordentlich, aber für Grönemeyers Verhältnisse nicht herausragend ist, müsste man sich bei so vielen neuen, noch nicht kollektiv eingeschliffenen Liedern im Programm bei fast jedem anderen Künstler Sorgen um die Stimmung machen. Aber „Herbie“ und seine oft textfesten Fans brauchen offensichtlich längst nicht alle Gassenhauer, um sich gegenseitig abzufeiern wie einst im Mai 1984.
Die Reise ins Erscheinungsjahr des Mega-Erfolgs „4630 Bochum“ darf natürlich nicht fehlen. Und wie zuletzt häufiger kommt sie früh am Abend, eingeleitet vom „Steigerlied“. Wie seine Heimathymne „Bochum“ mitgeschmettert wird, hat das Zeug zum Immateriellen Weltkulturerbe. Und „Männer“ hebt die ohnehin imposante Laune noch mal. Letzteres kommt wie zuletzt regelmäßig im Hit-Triumvirat“ mit den „Ö“-Abräumern „Was soll das“, das etwas schleppend anläuft und sprachlich etwas abgemildert erklingt, und „Vollmond“.
Glänzendes Gitarren-Solo vom Heidelberger Stephan Zobeley
Das ist das erste richtige Song-Kraftwerk des Abends, bei dem der Heidelberger Stephan Zobeley mit einem umwerfenden und ausgedehnten Gitarrensolo die Stimmung auf die absolute Spitze treibt. Nach vorn getrieben vom präzise pumpenden Rhythmus-Herz der im Kern 1982 von Edo Zanki in Karlsdorf zusammengestellten Grönemeyer-Band: Bassist Norbert Hamm und Schlagzeuger Armin Rühl.
Dann wird es wieder neu – und ernst: Es sei die Tragik unseres Lebens, dass wir immer „jemanden oder jemandinnen“ suchen würden, der unsere Probleme löst. Dabei müsse man seine ganz schweren Themen selber in den Griff bekommen – „sonst ist das keine Beziehung, sondern eine Paartherapie“. So leitet der Wahl-Berliner „Eine Tonne Blei“ ein, nur begleitet vom gewohnt einfühlsamen Mannheimer Alfred Kritzer am Keyboard und Background-Sänger Markus Zimmermann aus Bruchsal.
Rückenwind für Humanismus
Unverzichtbar ist im Konzert auch Grönemeyers Unterstützung für humanistische Leistungen – wie 2015, als unsere Gesellschaft etwas Außergewöhnliches geleistet habe, indem wir auf Geflüchtete zugegangen seien. Dafür gibt es Szenenapplaus vor „Der Schlüssel“, einem hochempathischen Song über Heimatverlust: „Nichts ist wie was man Heimat nennt / Man ist hier fremd / Man ist gelähmt / Weil man nie vergisst / Dass der Schlüssel nicht mehr schließt.“ Das inhaltlich wesensverwandte „Doppelherz / Iki Gönlum“ wird gefeiert wie einer der „Greatest Hits“. Was das Herz des Hauptdarstellers höher schlagen lässt und ihn zu theologisch gewagten Formulierungen treibt: „Welch schönes Pfingstfest! Der Heilige Geist ist niedergekommen!“ Auf die Baby-Fotos darf man gespannt sein.
Eine weitere Herzensangelegenheit Grönemeyers fällt an diesem Abend aus: die Unterstützung aufstrebender Künstler, Aber der junge, mit viel Autotune agierende Songwriter und Produzent Schmyt kann nicht wie geplant um 19.30 Uhr das Vorprogramm bestreiten. Es wäre sehr spannend gewesen, wie das Publikum des Altmeisters auf diese Herausforderung seiner Hörgewohnheiten reagiert hätte.
Plädoyer für Klima-Aktivisten
Nach dem immergrünen Abräumer „Musik nur wenn sie laut ist“ ergreift er Partei für die Generation Klimaschutz. Deren Mittel des Protests seien vielleicht noch nicht ausgereift, sagt Grönemeyer mit Blick auf die umstrittenen Aktionen der Letzten Generation. Aber er sei froh, dass sich junge Leute nach 16 lähmenden Merkel-Jahren wieder engagieren. Das Lied dazu trägt den etwas unauffälligen Titel „Oh Oh Oh“: „Da sind so viele offene Gesichter / Gewappnet für den Klimakampf / Voll durchgenervt von alten Geschichten / Sie wollen voran, stehen unter Dampf / Muss die Welt erst in Flammen stehen / Dass wir uns aus unsrem Koma drehen? / Es braucht den nimmermüden ,Oh, oh, oh’-Aufschrei / Rüber in die neue Zeit.“

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„Herzhaft“ hat unter den neuen Songs zwar den größten Hit-Appeal, aber den Refraintext nimmt man auch nur einem Grönemeyer ab („Nimm mich in die Herzhaft“). Wie viel besser er texten kann, zeigt „Der Weg“. Die Trauerballade für seine 1998 verstorbene Ehefrau Anna Henkel bekommt mit den größten Applaus – weil sie auch nach über 20 Jahren noch extrem bewegt. Daran reicht das ähnlich gelagerte „Urverlust“ in der Zugabe zwangsläufig nicht ganz heran.
Mit den besten neuen Songs „Deine Hand“ und „Angstfrei“ sowie den ewigen Stimmungshöhepunkten „Mensch“ und „Alkohol“ (am Ende befeuert vom neuen Saxofonisten Thorsten Skringer) treibt die Show einem ersten Schlusspunkt entgegen: dem musikalischen und energetischen Glanzlicht „Bleibt alles anders“ am Ende des Hauptteils. Man immer wieder nur dazu raten, die etwas unterbewertete gleichnamige Platte anzuhören – so verblüffend modern klang etablierte deutsche Popmusik 1998.
Es hagelt Zugaben
Danach hagelt es regelrecht Zugaben, zehn Lieder in drei Blöcken und unterschiedlichsten Konstellationen: Es beginnt politisch miz „Turmhoch“, einem Lied für die Frauen, die endlich kapiert haben, dass sie statt der Männer an die Macht drängen sollten. Es folgt die angejazzte Version des Liebeskummer-Klassikers „Flugzeuge im Bauch“, die das Mitsingen nicht leicht macht. Theoretisch, denn das Publikum ist hier fast am lautesten. Es gibt noch einige starke Momente, etwa das tolle mehrstimmige Intro zum immer großartigen „Demo (Letzter Tag)“ oder der „Unplugged“-Ansatz von „Land unter“ mit Kritzer am Akkordeon. Nach dem tanzbaren „Mambo“ klingt diese vor Temperament und Kraft strotzende Show mit drei eher ruhigen Songs aus.
Wir kommen jetzt jede Pfingsten!"
Grönemeyers Fazit: „Wir kommen jetzt jede Pfingsten! Es hat noch nie jemand so gegroovt. Das sage ich nicht jeden Abend“, lobt er noch einmal das Mannheimer Publikum. Bei seiner eigenen Leistung fällt – neben dem in den Spitzen mitunter zu grellen Sound – auf: Die erste Konzerthälfte scheint die Stimme quasi für die zweite zu ölen – sie klingt gegen Ende immer weniger rau und kantig. Ob das wirklich mit einem anderen Mikrofon zu tun hat, wie der Sänger witzelt? Wohl kaum. Eine Rolle spielt das nicht. Grönemeyer verehrt ja kaum jemand für perfekten Wohlklang. Dass er für so viel herzlichen Einklang sorgt, ist wesentlich wichtiger. Star , Fans und Band liefern das gewohnte Top-Niveau als eingespieltes Team.
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