Mannheim. „Es ist ein groß Ergetzen, sich in den Geist der Zeiten zu versetzen, zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht.“ Für Generationen deutscher Schüler führte kein Weg zum Abitur an ihm vorbei: Goethes „Faust“. Das wohl berühmteste Drama der deutschen Literaturgeschichte gehört - wohl auch darum - zu den bekanntesten und meistzitierten Werken überhaupt.
Was die Gretchenfrage ist („Wie hast du’s mit der Religion?“), was „des Pudels Kern“ war (Mephisto) und was es mit dem Augenblick, der verweilen soll, auf sich hat, weiß nur, wer wenigstens eine grobe Idee von dem hat, was Johann Wolfgang von Goethe sich mit seinem „Faust I“ vor mehr als 200 Jahren ausgedacht hat.
Doch die kulturelle Bedeutung des großen Werkes scheint zu schwinden. Der Deutsche Bühnenverein registriert ein geringeres Interesse am „Faust“ - und auch in der Schule verliert das Werk zunehmend an Bedeutung.
Nur in wenigen Bundesländern ist es heute noch Pflichtlektüre, wie neulich eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur ergeben hat. Dazu gehören Hessen, das Saarland, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen, wo das Werk schon in der 10. Klasse drankommt, weil „wir die Bedeutung des Werkes als Kulturgut als so hoch ansehen, dass auch die Schülerinnen und Schüler der Oberschulen das Werk kennen sollten, nicht nur die Gymnasiasten“, wie ein Sprecher des sächsischen Kultusministeriums sagt. In Bayern muss es im neuen Schuljahr ab diesem September zum vorletzten Mal gelesen werden. Ab 2024/25 ist es keine Pflichtlektüre mehr, nachdem es das fast ein halbes Jahrhundert lang gewesen ist - zumindest im Deutsch-Leistungskurs. In Baden Württemberg muss das Werk bereits ab 2023 nicht mehr zwingend gelesen werden.
„Da haben sie bestimmt den falschen Text gestrichen“, sagt der Berliner Germanist Michael Jaeger, der das Buch „Goethes ’Faust’: Das Drama der Moderne“ geschrieben hat. Jaeger kann die bayerische Entscheidung zum Werk nicht verstehen: „Ausgerechnet der ,Faust‘ eignet sich ja besonders gut, die Themen von damals in die heutige Zeit zu übertragen.“ Frei nach dem Motto: „Ich bin’s, bin Faust, bin deinesgleichen.“
Kulturelle Werte erhalten
Dass „Faust“ sich stets auf die heutige Zeit beziehen lässt, findet auch die ehemalige Schulleiterin des Mannheimer Lessing-Gymnasiums, Uta Vater. Sie habe „Faust“ „etliche Male durchgenommen“ und hält die Entscheidung, Goethes Werk als Pflichtlektüre abzuschaffen, für falsch. „Das sind kulturelle Werte, die die Schüler kennen sollten“, sagt sie. Goethe, Schiller und Lessing gehören laut der Ex-Rektorin einfach dazu. Deshalb habe sie während ihres Unterrichts den „Faust I“ auch stets durchgenommen - auch als er in Baden-Württemberg kurzzeitig keine Pflichtlektüre gewesen sei.
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Auch Nadine Budde, Deutschlehrerin am Johanna-Geissmar-Gymnasium in Mannheim, werde den Faust „sicherlich nie ganz“ aus dem Unterricht streichen. Zumindest in Auszügen werde sie das Werk immer behandelt, teilt sie dieser Redaktion mit. Sie erklärt: „Ich finde es schade, wenn „Faust“ als Kulturgut verloren geht. Es ist gesellschaftlich verbindend, wenn alle wissen, wer Mephisto ist oder was die Gretchenfrage bedeutet.“
Veraltetes Frauenbild
Budde erkennt allerdings auch Argumente für das Abschaffen des Stücks als Pflichtlektüre an. „Es wurde in den letzten Jahren immer schwieriger, den „Faust“ zu unterrichten, da vor allem das theologische Hintergrundwissen fast gänzlich fehlt“, teilt die Lehrerin ihre Erfahrungen. Weiter erklärt sie: „Viele Lehrerinnen und Schüler sind es leid, sich immer wieder mit den Nöten und Klagen (älterer) Männer auseinanderzusetzen. Den Mädchen bieten viele dieser Schriften keine Identifikationspunkte, das Frauenbild ist veraltet.“
Georg Büchners Sozialdrama „Woyzeck“ ist - zusammen mit Juli Zehs „Corpus Delicti“ - auch für die kommenden drei Abiturjahrgänge vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) in Berlin als Lektüre festgelegt, die als bekannt vorausgesetzt werden sollte. Die aus Berlin stammende Mannheimer Ex-Rektorin Vater findet es nicht schlecht, die Unterrichtsinhalte - je nach zeitlichen Möglichkeiten - auch um „Woyzeck“ zu erweitern. Allerdings sei Büchners Werk keine Alternative für den Faust. Wenn es um die Wahl zwischen den beiden Büchern ginge, entscheide sie sich für Goethes Stück.
Anders sieht das in der Theaterlandschaft aus. Schon in der Spielzeit 2020/21 war der „Faust I“ nach Angaben des Deutschen Bühnenvereins „erstmals seit vielen Jahren nicht mehr an erster Stelle als meistinszeniertes Drama“. Nur zwei Neuinszenierungen des großen Dramas sind den Angaben zufolge in der kommenden Spielzeit an deutschen Bühnen geplant. „Das ist auffällig wenig“, sagt eine Sprecherin des Vereins.
„In den 1980er oder 90er Jahren fand sich das Stück des Öfteren gerade so unter den zehn meistgespielten Dramen, war also auch nicht ganz vorne“, sagt Detlev Baur, Chefredakteur der vom Bühnenverein herausgegebenen Zeitschrift „Die deutsche Bühne“.
Woyzeck im Theater beliebter
Von einer „zyklischen ,Faust‘-Abkühlungsphase“ geht er dieses Mal allerdings nicht aus: „Ich vermute eher, dass es in Zukunft auf den Bühnen keine so große Rolle mehr spielen wird - schon weil es auch in den Schulen an Bedeutung einbüßt. Eigentlich ist der ,Faust‘ ja ein Lesedrama - und wer liest heute noch Stücke?“ Das Stück mit den meisten Inszenierungen ist Georg Büchners „Woyzeck“, wie Baur für die im September erschienene Ausgabe herausgefunden hat. „Verlierer Goethe“ heißt der Titel seines Artikels, in dem er von einer „epochalen ,Faust‘-Krise“ schreibt. Faust und sein sehr viel jüngeres Gretchen, das sei heute „vielleicht nicht ganz so brisant wie die soziale und psychische Deformation eines mittellosen Soldaten wie Woyzeck“, sagt Baur. (mit dpa)
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