Mannheim. Eine Sackgasse wird sie immer wieder genannt, die radikale Avantgarde nicht nur der Nachkriegszeit - ein Satz, über den sich einige aufregen werden. Gemeint ist hier aber das Radikale, das Serielle in der Musik eines Olivier Messiaen oder Pierre Boulez. Gemeint ist das Informel in der bildenden Kunst von K.O. Götz oder K. R. H. Sonderborg. Gemeint ist auch das assoziativ und experimentell strömende Erzählen in der Literatur von James Joyce oder Arno Schmidt oder das filmische Storytelling eines David Lynch, der mit Unlogik, chronologischen Brechungen und viel zu viel finaler Unklarheit nur eine kleine Fangemeinde begeistert.
Selbst die komplexen Eskapaden einer Rockband wie Emerson, Lake and Palmer enden mit Emerson, Lake and Palmer und die der frühen Pink Floyd bei Sigur Rós, die (fast) keiner kennt.
Keine Frage: Viele der Genannten werden von Wissen- und Fanschaft hoch geschätzt und eingestuft, erreichen aber ein Minimum an Volk. Selbst Arnold Schönberg, der bekannteste Zwölftöner, wurde nie zum Klassiker, wie Zeitgenossen und Anhänger immer gehofft hatten. Traurige Tatsache: Von Schönbergs gut 50 Werken wird allenfalls die „Verklärte Nacht“ immer wieder mal gespielt, von Alban Berg „Lyrische Suite“, das Violinkonzert und die Opern „Lulu“ und Wozzeck“. Und Anton Webern, der Radikalste der Neuen Wiener Schule, ist 77 Jahre nach seinem Tod mausetot. Sein Werk taucht nicht auf. Als hätte es ihn nie gegeben.
Die Kunst gehört dem Volk. Basta!
Die Frage, für wen der Mensch Kunst mache und wem sie am Ende gehöre, stellt sich in der Demokratie verständlicherweise kaum - vor allem dann nicht, wenn eine Künstlerin nicht nur vom Werkverkauf leben muss, sondern staatliche Aufträge und andere Hilfen erhält. Kunst wird da gewissermaßen ästhetisch so frei, dass sie darf, was sie will und kann, dass sie will und kann, was sie darf.
Einem wie dem russischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch ging es da anders. Er wurde unter der harten Knute von Josef Stalin jenseits des Eisernen Vorhangs zum Weltstar, im eigenen Land aber von der politischen Elite bis hin zur Etikette der Entartung als formalistisch und für eine heuchelnde Elite werkelnd verhöhnt und verpönt. Schostakowitsch hat sich die Frage immer und immer wieder gestellt: Für wen schreibe ich? Wie schreibe ich? Und wem gehört am Ende die Kunst?
Die Antwort der Sozialisten lautete: Die Kunst gehört dem Volk! Basta! So hat es schließlich auch Lenin haben wollen. Doch Schostakowitschs Antwort lautete: Ich schreibe für alle und niemanden, also gehört meine Musik auch allen und niemandem. Sie gehört jeder Zeit und keiner Zeit. „Kunst gehört denen, die sie erschaffen, und denen, die sie genießen“, schrieb Julian Barnes in seinem tollen Roman „Der Lärm der Zeit“.
Warum Musik es am schwersten hat
Schostakowitschs Musik tat die Gratwanderung zwischen staatlicher Repression und Individualdrang offenbar gut. Während er einen „apokalyptischen Soundtrack zum 20. Jahrhundert“ (Gottfried Blumenstein) schuf, wurde seine Musik von denen im Westen etwas belächelt, die sich selbst als Speerspitze der Entwicklung fühlten. Besonders an dem Ort, der für die Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts bedeutsam war: die Donaueschinger Musiktage, die sogar Thomas Mann als Zentrum neuer Musik literarisch verewigt hat.
Ohnehin hat es die Musik am schwersten. Immer. Sie wird existenziell, sobald wir an den Sitz gefesselt sind und im Konzert bleiben müssen. Stundenlang. Das Buch kann zugeklappt, das Bild allein gelassen, das (Heim)-Kino verlassen werden. Zeitgenössische Musik hören ist immer ein Bekenntnis, eines zwischen Wahl und Qual. Deswegen gibt es, fern der Popmusik, keinen echten Hype um sie, wie etwa in der Kunst um Jeff Koons, Gerhard Richter oder Cindy Sherman, wobei die auch nicht als hochabstrakt gelten können.
Künstler als Resultat eines Volkes
Ist man konservativ, wenn man das Gesagte offen äußert? Zumindest verdächtig. Dabei geht es doch auch bei Kunst um Kommunikation. Kommunikation zwischen Künstler und Publikum. Kommunikation zwischen Publikum und Publikum, wenn das Werk erlebt wurde. Die Gedanken sind ja immer noch frei.
Schostakowitsch ist im Kulturtotalitarismus vorgeworfen worden, er komponiere ja nur pessimistische und formalistische Musik für eine heuchlerische Schicht von Experten und Feinschmeckern, während das Volk doch Affirmatives brauche, etwas Positives. Dabei war schon Schostakowitsch, gemessen an dem, was im Westen als fortschrittlich galt, selbst in seinen modernsten Momenten rückwärtsgewandt. Es ist also alles eine Frage der Perspektive.
Kunst komme nicht von Können, sondern von Müssen, ist eines der berühmten Bonmots in Bezug auf den propagierten Individualismus und Fortschritt im 20. Jahrhundert. Es fragt nicht nach dem Volk, wie es Stalin gefordert hat. Es sieht nur das Gegenteil: das produzierende Ich, dessen Wesen sich auf das Werk überträgt. Wodurch aber und woher, so fragte schon Martin Heidegger in seinem Essay „Der Ursprung des Kunstwerkes“, sei der Künstler das, was er ist? Er ist es doch durch sein Wirken in der Gesellschaft, er ist ihr Resultat und somit auch Resultat eines Volkes.
Wofür Sackgassen nötig sind
Insofern ist alles verbunden. Volk und Künstler. Künstler und Volk. Das Volk entscheidet am Ende ohnehin, was die Zeit überdauern wird. Insofern ist es auch der Besitzer der Kunst, die ja nur existiert, wenn sie betrachtet, gelesen, gehört wird. Neuzeitliche philosophische Denkweisen sehen in ihr, der Kunst, ohnehin etwas, das jeden Menschen potenziell berühren kann: etwas Universales, einen Ausdruck des Menschseins im Menschen.
Insofern werden wir nach wie vor auch Labore für Neues brauchen, deren Erforschungen dosiert einfließen in die Kunst auch von Publikumslieblingen wie Beyoncé, Christo, Jeff Koons oder Juli Zeh. Es sind nicht immer die Werke von Revolutionären, die überleben. Oft sterben ja gerade sie unter der Guillotine des Massengeschmacks. Aber ihr Tod schafft Freiheit für andere, die Dinge moderater, verständlicher, wenn man so will: volksnaher zu äußern.
Die anfangs beschriebenen Sackgassen sind also mitnichten ärgerlich. Sie sind nötig zur Auslotung der Grenze zum Unmöglichen. Eine wahre Definition von Kunst kann also nur ein Work in progress mit steter Korrektur sein, kreisförmig sich bewegend, während die unwahre Definition sicherlich die ist, wenn jemand glaubt, der Kunst Eindeutigkeit und Funktion zuweisen zu können.
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