Alles dreht sich. Der Boden schwankt. Nebelschwaden wabern. Die Welt ist kalt und leer. Klang-Kaskaden schwappen durch das düstere Nichts. Aus der Dunkelheit tauchen kaum unterscheidbare, androgyne Gestalten auf. Formieren sich zum anonymen Chor, stochern in Lessings „dramatischem Gedicht“ herum, formen jeden Buchstaben zu einem kantigen Kunstwerk und jeden Satz zu einem zeitlosen Bauwerk über die vergebliche Suche nach der Wahrheit. Keiner weiß, woher er kommt und wohin er geht. Die Menschheit ist eine manipulierbare Masse, kennt keine Moral und kein Gewissen. Die Welt ist aus den Fugen, der Kampf der Kulturen kennt nur Verlierer. Der Zufall regiert und entscheidet über Identität und Zukunft, Liebe und Hass. Wie sollten die von Ulrich Rasche aus dem Zeitalter der Kreuzzüge in die Moderne katapultierten und von künstlicher Intelligenz gesteuerten Wesen wissen, was richtig oder falsch, gut oder böse ist?
Auch „Nathan der Weise“, der reiche, jüdische Kaufmann, der sonst für jedes Problem eine Lösung hat, ist verwirrt. Er weiß, dass Sultan Saladin von ihm Geld erpressen will, um seinen nächsten Krieg gegen die Christen zu finanzieren, die Ungläubigen, die nur den Tod verdient haben. Aber warum verwickelt der Moslem ihn in einen Disput über Religion, will von Nathan wissen, „was für ein Glaube hat dir am meisten eingeleuchtet?“
Lebensrettende Parabel
Nathan zögert, fürchtet bei einer falschen Antwort um sein Leben. Dann fällt ihm ein Märchen ein, die Parabel vom Vater, der einen Ring besitzt, den er seinem liebsten Sohn vermachen soll, um diesem die Herrschaft über sein Haus zu übertragen. Da sich der Vater nicht zwischen seinen Söhnen entscheiden kann, lässt er zwei weitere, ganz gleiche Ringe herstellen und gibt jedem seiner Söhne einen Ring: Die Unmöglichkeit, den „echten“ Ring von den beiden anderen zu unterscheiden, steht für die Vergeblichkeit, den „wahren“ Willen Gottes und die einzig „richtige“ Religion erkennen zu können. Saladin ist von der Geschichte so angetan, dass er dem sonst so verhassten Juden seine Freundschaft anträgt und dabei fast vergisst, ihn nach Geld zu fragen. Zum Glück ist Nathan so weise, es dem Sultan „freiwillig“ zu überlassen.
Die Alte Saline, Industriebrache auf der Perner-Insel in Hallein und Experimentierbühne der Salzburger Festspiele, ist der passende Ort für Ulrich Rasches Sicht auf Lessings altes Drama. Graue Betonwände, eine sich unentwegt vor und zurück drehende Bühne, auf der die geschlechtslosen Figuren ritualisierte, streng choreographierte Bewegungen vollführen, ihren Text wie schwere Steinbrocken zerkauen und seltsam zerhackt aus ihren angstverzerrten Mündern fallen lassen. Niemand ist sich seiner Identität sicher. Wenn Nathans jüdische Tochter Recha (Julia Windischbauer) und der christliche Tempelherr (Mehmet Atesci) in Wahrheit Geschwister sind und Saladin (Nicola Mastroberardino) ihr Onkel ist, warum sollte Nathan dann keine Frau sein? Valery Tscheplanowa, bei der Premiere für die kranke Judith Engel eingesprungen, passt sich mühelos in Rasches Rotationsmaschine ein. Während die Bühne sie durch Dauer-Nebel dreht und sie gegen elektronisch verzerrte Klänge ankämpft, setzt sie jedes Wort so, als würde sie mit einem Skalpell hantieren.
Doch gegen die Antisemiten, die ihn auf den Scheiterhaufen bringen wollen, weil er ein armes Christenkind nicht sterben lassen mochte, sondern lieber zu sich nahm und jüdisch erzog, hat Nathan keine Chance. Der antisemitische Hass, von Rasches Akteuren in einer rhetorischen Endlosschleife herausgebrüllt, ist furchterregend und lassen das von religiöser Toleranz inspirierte „Happyend“ des Vernunft-Dramas fragil erscheinen. Der kommende Krieg lauert bereits an der nächsten Ecke. Rasche schaut in den Abgrund, zeigt, wie dünn das Eis der Zivilisation ist.
Noch bis 12. August, Karten: salzburgfestival.at
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