Der Film als Medium, um einem Schicksalsschlag einen Platz im Leben zu geben: Ruthy Pribar findet berührende Worte, wenn sie über ihr Langfilmdebüt „Asia“ spricht. Das Werk aus Israel läuft im Wettbewerb des Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg. Darin erzählt sie leise von einem Mutter-Tochter-Verhältnis, das von einer Krankheit auf die Probe gestellt wird.
Ruthy Pribar hat vor Jahren ihre Schwester verloren. Es ist nicht ihre eigene Geschichte, die die Filmemacherin aus Tel Aviv hier erzählt – aber sie basiert auf persönlichen Erfahrungen und Emotionen: Wie fühlt es sich an, einen geliebten Menschen leiden zu sehen? Wie schafft man es, gemeinsame Zeit zu genießen, obwohl sie von etwas Großem, Dunklem überschattet ist?
Für sie besteht künstlerisches Schaffen – vor allem das Filmemachen – darin, „Erlebnisse zu verarbeiten, mit denen man im Leben nicht immer gut umgehen konnte“, erklärt die Regisseurin im Video-Gespräch: „Du hast die Chance, Momente zu schaffen, die du so nicht erlebt hast oder Dinge anders zu machen, als du sie tatsächlich getan hast.“ Es falle schwer, einen drohenden Abschied hinzunehmen – dabei bedeute genau das einen riesigen Unterschied: „Wenn du akzeptierst, was passiert, und im Moment sein kannst, statt in eine Zukunft zu flüchten, die es so nicht geben wird“.
Mutterschaft als großes Thema
Vika ist 17 und macht, was man als Teenagerin eben so macht: an der Skateanlage rumhängen, heimlich rauchen und trinken, rumknutschen, der Mutter wortkarge Antworten geben. Die alleinerziehende Asia, selbst erst Mitte 30, ackert als Pflegerin im Krankenhaus und hat nach Schichtende Sex mit einem verheirateten Arzt (im Auto) oder schleppt Typen in Bars ab. Die beiden Frauen haben russische Wurzeln, bleiben eher unter sich. Und doch leben sie auf gewisse Weise nebeneinander her – bis Vika zusammenbricht und eine schwere Krankheit diagnostiziert bekommt. Die Symptome erinnern an ALS, eine Erkrankung des Nervensystems. Im Film aber trägt die Krankheit keinen Namen: „Die Leute sollen keinen Film über ALS sehen, sondern einen über eine Mutter und ihre Tochter.“
Als Pribar begann, am Skript zu arbeiten, war Asia älter. „Aber es fühlte sich nicht richtig an.“ Sie machte die Mutter jünger, glich sie ihrem eigenen Alter an. „Ich hatte das Gefühl, ich kann mich stärker hineinfühlen – auch wenn sie sich in einer ganz anderen Lebenssituation befindet.“ Asia sollte jung sein, noch etwas vom Leben erwarten. Und der geringere Altersunterschied zwischen Mutter und Tochter veränderte auch deren Verhältnis zueinander. Denn für Ruthy Pribar ist „Asia“ auch ein Film über Mutterschaft. Als sie begann, das Buch zu schreiben, hatte sie selbst keine Kinder. Vor dem Dreh bekam sie ihr erstes. „Meine Perspektive auf das Thema hat sich damit komplett verändert“, erzählt sie. Inzwischen ist ihr zweites Kind auf der Welt. Die Filmemacherin gab ihrem Werk zwei Perspektiven: die der Tochter, die sie selbst ist – und die der Mutter, die sie während der Arbeit am Film geworden ist. Es waren intensive Jahre: „Ich musste nicht rausgehen und recherchieren – es war wie eine innere Recherche.“
Mit Shira Haas, bekannt aus der Netflix-Serie „Unorthodox“, und Alena Yiv hat das Filmteam perfekt harmonierende Schauspielerinnen gefunden. Auch ohne viele Worte gelingt es ihnen, die angespannt-liebevolle Atmosphäre zwischen Asia und Vika zu zeichnen: Kleine Szenen und Gesten zeugen gleichzeitig von Verzweiflung und Lebensmut, von Schwäche und Stärke. „Wir konnten nicht ahnen, dass Shira so berühmt sein würde, wenn der Film rauskommt“, erzählt Pribar. Sieben Jahre dauerte ihre Arbeit. Sieben Jahre, in denen sie sich immer wieder mit den eigenen schmerzenden Erfahrungen konfrontiert hat? Gar nicht so sehr bei der Arbeit am Film, sagt sie. Da sei sie total fokussiert. Eher dann, wenn andere das fertige Werk gesehen und über ihre eigenen Erlebnisse gesprochen haben.
Kein Gespräch ohne Corona
Ruthy Pribar sitzt in ihrer Küche. An Arbeiten ist nicht zu denken, die Familie befindet sich in Isolation, weil eine Erzieherin im Kindergarten mit dem Coronavirus infiziert war. Geschlossene Kinos verhageln auch Pribar nun die ganz große Bühne. Wütend ist sie darüber nicht, aber enttäuscht: „Ich wollte beim Publikum sein, ich wollte sehen, wie die Menschen reagieren und hören, was sie bewegt.“ Was sie indes versöhnt, sind „viele, herzerwärmende Reaktionen von überall auf der Welt“ – obwohl sich der Film mit einem so schweren Thema beschäftige. Eine neue, wohl besonders herzerwärmende Nachricht: „Asia“ geht als israelischer Beitrag ins Oscar-Rennen um den besten internationalen Film.
Info: Mehr zum Online-Festival unter: www.iffmh.de
Filmkunst im Netz
- Zum Festival: Das 69. Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg findet noch bis zum 22. November online statt. Programm- und Zugangsinformationen gibt es auf der Webseite unter: www.iffmh.de
- Zur Reihe: „On the Rise“ ist der internationale Wettbewerb des Filmfestivals. Darin laufen Werke von Filmschaffenden, die zumeist noch am Anfang ihrer Karriere stehen.
- Zur Regisseurin: Ruthy Pribar ist 1982 in Israel geboren. Sie besuchte die Sam Spiegel Film School in Jerusalem. Schon ihr Abschlussfilm dort – „Last Calls“ – wurde mehrfach ausgezeichnet.
- Oscar-Beitrag: Nachdem der Film bei den Israeli Academy Awards neun Preise abgeräumt hat, geht er als israelischer Beitrag ins Oscar-Rennen um den besten internationalen Film.
- Schauspielerin: Bereits beim Tribeca Film Festival, das in diesem Jahr ebenfalls online stattfand, wurde Hauptdarstellerin Shira Haas für ihre Leistung in „Asia“ als beste Schauspielerin ausgezeichnet.
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