Alles stimmt: der Turmbau, die Selbstüberhebung des Menschen zu einem höheren Wesen, die Sprachverwirrung. Das Alte Testament schwingt mit am Persischen Golf. Dubai stürmt glamourös und schwungvoll zum immerblauen Himmel empor, doch im Schatten seiner vielen illustren und irisierenden Skyscraper, engsten Turmakkumulationen und dem höchsten Bau der Welt überhaupt gehen herrschender Großreichtum und unsichtbare Armut eine friedliche Koexistenz ein. 828 Meter ist der nach dem Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate benannte Wolkenkratzer Burj Khalifa hoch. In dem Eine-Milliarden-Euro-Bau mit dem Grundriss einer Schiffsschraube stecken nicht nur 58 Aufzüge, sondern auch ein Goldautomat: Per Kreditkarte kann man - wenn man kann - Goldbarren ziehen wie unsereins 50-Euro-Scheine. Im Schatten von allem: eine edle Moschee mit elegantem Minarett. Und die Coca-Cola Arena.
Downtown Dubai. Hier spielt heute Abend Ludwigshafen eine Rolle: Die Deutsche Staatsphilharmonie und ihr Chefdirigent Michael Francis interpretieren Igor Strawinskys „Feuervogel“ von 1910, das erste der drei großen Ballette des Russen. Es wird der Abend mit dem größten Erfolg der Pfälzer werden, wissen wir Stunden später. Das Publikum wird stehen, toben, trampeln. Vier Abende gastieren die Staatsphilharmoniker auf Einladung der Europäischen Stiftung zur Kulturförderung beim Festival In Classica. Gerade, vor dem Konzert, ruft noch der Muezzin zum Gebet, gleich folgt ein Werk des Composer in Residence Alexey Shor. Und danach, um 22.30 Uhr, hat es immer noch 35 Grad Celsius. Welten prallen aufeinander.
Die Arena ist ein schmuck in Coca-Cola-Rot schimmernder Zweckbau mit 17 000 Plätzen und unzähligen Bediensteten, die einen auf Schritt und Tritt verfolgen. Für das Festival wurde die Arena so umgebaut, dass das Orchester richtig gut klingt. Das weltgrößte Observatorium der Klassikszene will man hier sein. Etwas vermessen klingt das schon. Doch immerhin treten Instanzen wie das Russische Nationalorchester, das Jerusalem Symphony Orchester oder auch Leute wie Mikhail Pletnev, Andreas Ottensamer oder Daniel Hope hier und auch in der Dubai Oper auf. 30 Konzerte in 30 Tagen, hinzu kommen eine Academy für junge Musiker und ein Klavierwettbewerb, der insgesamt mit 300 000 Euro (!) dotiert ist. Das ist deutlich mehr als bei den wichtigsten Klavierwettbewerben Tschaikowsky oder Chopin in Moskau und Warschau.
Die Finanzierung stammt wohl vor allem von ihm: Konstantin Ishkhanov. Er hat die Europäische Kulturstiftung auf Malta gegründet. Der armenische Unternehmer und Philanthrop, wie er sich nennt, muss sehr viel in die Stiftung gelegt haben, denn das maltesische und nur wegen Covid in Dubai gastierende Festival mit geschätzt insgesamt an die Tausend eingeladenen Teilnehmern (inklusive Verwaltung und Journalisten) dürfte auch einen fast zweistelligen Millionenbetrag verschlingen. Eine Anfrage zur Finanzierung bei der Stiftung wird aber ignoriert: „Normalerweise geben wir keinen Kommentar dazu“, so die Antwort.
Aber Geld scheint im globalisierten Dubai keine Rolle zu spielen. Zumindest in der Öffentlichkeit nicht. Luxus reiht sich an Luxus, genossen von reichen Russen, Europäerinnen oder Dubaiern, verwaltet und bearbeitet von 85 Prozent meist männlichen und Englisch radebrechenden Arbeitsimmigrierten aus Indien, Pakistan, Syrien, Bangladesh oder afrikanischen Ländern. Je nach Bildungsstand verdienen sie laut Studien teils weniger als vier VAE Dirham. Das ist unter einem Euro in der Stunde - und das in einem Land, in dem das durchschnittliche Monatseinkommen rund 2100 Euro und die US-Dollar-Millionärsdichte (26000) eine der höchsten weltweit ist. Die Wahrscheinlichkeit, hier einem Millionär zu begegnen, ist wohl größer, als in Deutschland einen Hund zu sehen.
Doch die Leute scheinen zufrieden. Fragt man etwa die meist indischen Fahrer in den Shuttle-Diensten, so klagen sie nicht. Dinesh etwa: „Es ist gut hier, ich kann gut leben, und manchmal können wir es uns sogar leisten, dass meine Frau und Kinder aus Indien mich besuchen.“ Drei Stunden Flug sind es dorthin, wo Dinesh herkommt. Er fährt uns durch die Stadt und zeigt das Wichtigste. „There“, sagt er, „it’s old, old, look!“ Er meint eine Siedlung am in die Stadt hinein reichenden Meerarm Dubai-Creek. Mehr als 50 Jahre sei sie alt, sagt Dinesh. Sie ist Teil der Altstadt.
Historisch war Dubai ein Städtchen für Perlentaucher und Fischer. Schon mit Beginn der Herrschaft der Al-Maktum-Familie ab 1833 entwickelte es sich weiter, wuchs im 20. Jahrhundert zum wichtigen Handelshafen am Persischen Golf und prosperierte nach den Erdölfunden in den späten 1960er Jahren sowie der Unabhängigkeit von Großbritannien 1971 schnell zur Megapole mit Wachstumskraft, Bauboom und touristischer Attraktion. Ein Wunderland. Ein Paradies. Ein Ort maximaler Möglichkeiten.
Eine Monarchie - mit islamischer Doppelmoral. Burka und Bikini. Beherrscht wird Dubai aktuell von Muhammad bin Raschid Al Maktum. Er ist Emir und automatisch Vizepräsident der Vereinigten Arabischen Emirate, deren Präsident immer der Emir Abu-Dhabis ist: Chalifa bin Zayid Al Nahyan. Überall in der Stadt hängt Muhammad bin Raschids Konterfei. Fragen der Moral drängen sich da für den Demokratie-Europäer fast genauso auf wie die nach dem Sinn, Mendelssohns „Reformationssinfonie“ nach Dubai zu bringen, ja, fast könnte das sogar als Mission interpretiert werden - in Dubai strafbar. Zudem: Darf man überhaupt in ein islamisches Land reisen, das etwa Homosexualität verbietet und in dem immerhin ein Kulturjournalist im Gefängnis sitzt? Darf man sich dorthin einladen lassen? Und wie sieht es in Zeiten des Klimawandels mit der CO2-Bilanz einer Orchesterreise aus?
Der Intendant der Deutschen Staatsphilharmonie ist hin- und hergerissen. Er gibt zu: Privat würde er diese Entscheidung vielleicht anders fällen. Doch Beat Fehlmann findet die Reise wichtig. „Für das Selbstverständnis des Orchesters“, sagt er im Gespräch in der Arena, „für den Zusammenhalt, für die Qualität“, schließlich könne man stolz darauf sein, als einziges deutsches Orchester bei einem internationalen Klassikfestival eingeladen zu sein. Er geht sogar so weit zu sagen, selbst in Landau würde man in Konzerten dann von all den Dingen profitieren. Damit reagiert er vielleicht auch darauf, dass man die Reise laut Fehlmann in der Landeshauptstadt Mainz eher kritisch sehe.
Für das Orchester jedenfalls war es befreiend. „Es war toll, wir haben sehr gut gespielt, glaube ich, und wir haben auch etwas vom Kulturaustausch gespürt“, sagt Soloflötistin Christine Palmen, die Einheimische im Auditorium gesehen hat. Chefdirigent Michael Francis geht weiter: „Es ist traurig, dass wir jetzt zunehmend feindseliger werden. Alles, was hilft, über die Mauern zu springen, ist gut.“ Mit fremder Kultur an fremden Orten. Solocellist Florian Barak findet das gut. Er sagt aber: „Es war wirklich sehr anstrengend, vier Programme an vier Tagen zu proben und aufzuführen.“
Am Tag des Abflugs liegt Dubai friedlich zwischen Wüste und Meer. Wie immer. Sonnig. Heiß. Knapp 40 Grad. Die Spitze des Burj Khalifa in 828 Metern Höhe verliert sich im morgendlichen Dunst des Himmels. Oder ist es Smog? Es wäre kein Wunder. Das Leben hier findet in klimatisierten Räumen statt. Und in klimatisierten Autos. Aus einem solchen sehen wir auf dem Weg zum Dubai Airport noch den letzten Gruß Muhammad bin Raschids. Sehnsüchtig blickt er auf einer gigantischen Werbefläche in die Ferne. Mai alslama, Dubai. Auf Wiedersehen Stadt des Turmbaus.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-deutsche-staatsphilharmonie-bringt-reformation-ins-muslimische-wunderland-_arid,1855275.html