Mannheim. Ich hatte kaum Zeit, mich auf den Test vorzubereiten. Konnte also nur auf das zurückgreifen, was ich mir zuvor in der Zeit des Lernens angeeignet hatte. Nun war es so weit. Mein Gesprächspartner begann damit, seine Fragen an mich zu stellen. Fragen zur Person, Fragen zu meiner Identität. Ich antwortete schnell und präzise. Nannte meinen Namen, mein Geburtsdatum, meinen Wohnort. Die Stimme des Fragenden klang ruhig und entspannt. Wie er wohl aussah? Ich konnte ihn nicht sehen, da wir uns in verschiedenen Räumen befanden. Und unsere Stimmen per Mikrofon und Lautsprecher in das jeweilige andere Zimmer übertragen wurden. Im Hintergrund hörte ich noch weitere Personen sprechen. Leise flüsternd. Mindestens noch ein weiterer Mann und eine weitere Person, die weiblichen Geschlechts zu sein schien. Die mündliche Prüfung lief weiter, die Gesprächsthemen wechselten sich in immer kürzeren Abständen ab. Ich sprach über die letzten bewaffneten Konflikte, die bis vor kurzem auf Teilen der Erde tobten. Redete von Naturphänomenen, welche unsere Welt in immer kürzeren Abständen ins Wanken brachten und unseren Fortbestand bedrohten. Ich nannte Namen von Politikern, die in jüngster Zeit durch mutige Entscheidungen den Lauf der Geschichte geändert hatten. Hatte auf jede Frage eine passende Antwort. Schnell, exakt und präzise. Nach gut einer halben Stunde merkte ich zunehmende Anspannung in der Stimme meines Fragestellers. Er ließ sich auch zunehmend mehr Zeit mit der Ausformulierung seiner Sätze. Überlegte genau, welche Worte er wählen musste, um mich aus der Fassung zu bringen. Aber das erzeugte bei mir keine Nervosität, keine innere Unruhe. Oder sogar Angst. Minuten um Minuten vergingen und unsere gemeinsame Unterhaltung dauerte an. Nach gut zwei Stunden des Frage- und Antwortspiels bat mein Gegenüber um eine kleine Pause. Um sich zu sammeln. Und sich auf den nächsten Abschnitt des Tests vorbereiten zu können. Ich stimmte seinem Vorschlag zu.
Der Autor - Uwe Dittes
- Uwe Dittes ist Jahrgang 1967, verheiratet und hat vier Kinder.
- Er ist in Schwetzingen aufgewachsen und in Ketsch beheimatet.
- Dittes arbeitet bei der SAP SE.
- Der Autor ist auch Rettungsschwimmer, Musiker, Fotograf und Cineast aus Passion.
Nach der Pause übernahm die Frau, welche ich zuvor nur im Hintergrund wahrgenommen hatte, die Initiative. Ihre Stimme trug unterschwellig etwas Lauerndes, etwas Herausforderndes in sich. Sie wechselte das Thema, weg von Fragen zu Fakten und zu Wissen. Hin zu Themen, bei denen es um Emotionen und Gefühle ging. „Wie riecht die Sommerluft, bevor es zu regnen beginnt?“ – „Erdig und frisch – man kann das Lechzen der Natur nach Wasser förmlich spüren, wenn es zuvor heiß und trocken war.“ Sie schien beeindruckt. Meine Antwort hatte sie so in dieser Form wohl nicht erwartet. Ich hätte noch ergänzen können, welche chemischen Abbauprodukte der Natur diesen typischen Geruch erzeugten. Entschied mich aber, es nicht zu tun. „Wann waren Sie das letzte Mal verliebt?“ Ich zögerte. Mir war schon im Vorfeld der Vorbereitung auf diese Prüfung klar, dass es auch Fragen geben würde, mit deren Beantwortung ich etwas mehr Schwierigkeiten haben würde. „Ist schon länger her. So lange her, dass jegliche Erinnerung an das gemeinsame Durchlebte hinter einem grauen Schleier langsam unsichtbar wurde.“ Sie schien davon nicht wirklich beeindruckt. Und hakte nach: „Warum haben Sie sich damals getrennt?“ Ich überlegte, ob ich diesen Angriff auf meine Privatsphäre mit „Was geht Sie das eigentlich an?“ erwidern sollte. Aber das wäre recht unprofessionell gewesen. Und ich wollte nicht unprofessionell wirken. Zu viel stand auf dem Spiel.
Der Test musste bestanden werden, koste es, was es wolle. Also gab ich meiner Gesprächspartnerin Stück für Stück die Dinge preis, welche sich zu einer plausiblen Antwort zusammenfügten. Die Frau am Mikrofon im anderen Zimmer schien trotzdem noch nicht wirklich überzeugt. „Glauben Sie an eine übernatürliche Kraft? Glauben Sie an etwas, das unsere Geschicke und unser Leben beeinflusst?“ Das war ihr nächster Versuch, mich ins Wanken zu bringen. „Wenn Sie meinen, ob ich meinem Schöpfer bisher begegnet bin, so lautet meine Antwort: Nein.“ Im Hintergrund des anderen Zimmers vernahm ich ein leises Kichern. Anscheinend hatte jemand einen gewissen Sinn für meinen Humor. Wobei ich auf diesem Gebiet noch deutliche Defizite besaß. Zumindest nach meiner Sicht der Dinge. In den nächsten 90 Minuten duellierten wir uns weiter mit Sätzen und Worten. Stellenweise mit zynischen Bemerkungen, auf die ich meist sachlich, aber ab und zu auch leicht ironisch antwortete. Anschließend bat auch meine Gesprächspartnerin um eine kleine Pause. Ich stimmte zu. Hätte aber keine Pause gebraucht, da ich mich immer noch frisch und unverbraucht fühlte.
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Chris lehnte an der Wand des Laborraums. Überlegte kurz und drehte sich dann zu Ria und Joseph hin. „Das lief doch bisher ganz gut, oder?“ Im Blick von Ria bemerkte er einen leichten Anflug von Unsicherheit. „Unheimlich, es ist einfach unheimlich“, entgegnete sie nach kurzem Zögern. „Ich hatte mir einige Szenarien ausgemalt, wie der Test ablaufen würde, aber einige Antworten haben mich dann doch überrascht.“ Joseph sagte zu alledem nichts. Er lehnte am Fenster und ließ seinen Blick über die trostlose Landschaft schweifen. „Wir sollten mit der Prüfung weitermachen und es zu einem Ende bringen.“
Der Lautsprecher knisterte kurz, als eine dritte Person begann, sich mit mir zu unterhalten. „Wissen Sie, was der Turing-Test ist?“, war seine Frage an mich. Der Turing-Test also. Darum ging es. Ich entgegnete, dass mir diese Art der Prüfung bekannt sei. Turing hatte in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Möglichkeit herausgearbeitet, um das Denkvermögen von Menschen und Maschinen beurteilen zu können. Um herauszufinden, ab welchem Zeitpunkt es keinen Unterschied in der Art und Weise gab, wie die Maschine und der Mensch dachten. Ich entgegnete dem Fragesteller, dass dieser Test eine Unterhaltung zwischen zwei Gesprächspartnern beinhalte. Einem Menschen und einer Maschine. Und dass der Test von der Maschine dadurch bestanden werden konnte, dass die Ansammlung aus Bits und Bytes den Humanoiden täuschte. Indem die Maschine vorgab, so zu sein und so zu denken wie ihr Gegenüber aus Fleisch und Blut. Ein Spiel. Ein „Imitation Game“. So nannte es Turing seinerzeit. Für einen Moment kam es mir fast so vor, als ob ich Bestandteil eines modifizierten „Imitation Game“ wäre. Ich verwarf aber diesen Gedanken schnell. Erwiderte meinem Gegenüber, dass es in der Folge auch starke Kritik an Erkenntnissen aus dem Turing-Test gab. Wenn versucht wurde, mit dieser Art von Prüfung Rückschlüsse auf das Vorhandensein von Intelligenz oder ein mögliches Bewusstsein des artifiziellen Gesprächspartners zu ziehen. Meinem Diskussionspartner schienen meine Antworten zu gefallen. Zumindest glaubte ich, einen zufriedenen Unterton in seiner Stimme wahrzunehmen. Seine finale Frage an mich war, ob ich wüsste, dass der Turing-Test jemals von einer künstlichen Intelligenz bestanden worden wäre. Ich grübelte etwas und verneinte. Es gab keinen Fetzen, kein Bruchstück in meiner Erinnerung, welches mich vom Gegenteil überzeugte. Danach war die Prüfung vorüber. Und das Licht in meinem Raum schien langsam, aber sicher bis zur vollständigen Dunkelheit zu erlöschen. Ich wartete auf das Ergebnis der Prüfung.
Chris, Ria und Joseph saßen am Tisch im Nebenraum des Prüfungszimmers. Starrten immer wieder auf die Szenen im Überwachungsmonitor, auf dem Ausschnitte aus dem Testgespräch zu sehen waren. Diskutierten über das vergangene Geschehen. Tauschten Meinungen und Standpunkte aus, ohne sich zu streiten. Wägten Pro und Kontra ab. Versuchten gemeinsam, zu einer Entscheidung über das Ergebnis des Tests zu kommen. Eine sorgfältig abgewogene und durchdachte Entscheidung. Schon in Anbetracht der Tatsache, dass die Zeit drängte. Und die Chancen auf einen weiteren erfolgreichen Versuch immer weiter schwanden. „Ist sie schon bereit?“, fragte Ria. Von den Individuen, die sie nach der Katastrophe hatten retten können, war das Gehirn von Proband 2142 eines der wenigen, welches die geringsten neuronalen Schäden hatte. „Ich bin mir immer noch nicht sicher“, entgegnete Chris besorgt. „Ich habe nach den Testergebnissen schon noch so meine Zweifel, dass sie sich in einem künstlichen Körper zurechtfindet. Und in der Lage ist, mit uns zusammen in einer Welt zu leben, in der es wahrscheinlich keine weitere Spezies ihrer Art geben wird.“ – „Sollen wir sie wieder in den Kryo-Schlaf versetzen und einfrieren?“, fragte Joseph zum Abschluss der Diskussion.
„Gute Frage“, entgegnete Ria. „Ja, wir sollten das tun. „Lass unsere künstlichen Intelligenzen die menschliche Intelligenz noch etwas weiter trainieren. Gib ihr die Ruhe, die sie dazu braucht. Und überprüfe dabei, ob sie im Schlaf wirklich von etwas träumt. Ich bin mir bei den Menschen noch nicht sicher, ob das der Fall ist. Immerhin imitierte uns vorhin Proband 2142 schon recht gut. Fast, aber noch nicht ganz, perfekt. Und reduziere bitte vorher noch die Adrenalin- und Serotonin-Dosis. Zu viel davon könnte ihrem Zentralorgan schaden.“
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