Heidelberger Frühling

Das hat Igor Levit beim Heidelberger Frühling präsentiert

Deutschlands berühmtester Pianist Igor Levit spielt beim Heidelberger Frühling späten Brahms, moderiert die Brahms-Nacht und präsentiert seinen sensationellen Schüler Lukas Sternath

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Bisweilen sieht es bei der Arbeit an Brahms fast aus, als sitze Glenn Gould noch einmal am Flügel: Igor Levit – hier bei seinem Brahms-Recital beim Heidelberger Frühling am Wochenende. © Studio visuell

Heidelberg. Jetzt also die geballte Ladung Igor Levit beim Heidelberger Frühling. Endlich. Brahms steht auf dem Programm. Viel Brahms. Mehr Brahms. Gar eine ganze Brahms-Nacht, in der Igor Levit mit jungen Musikern in einem Brahms-Marathon auch moderierend auf der Bühne der Neuen Aula agiert. Doch was ist zu berichten von diesem vielfältigen Wochenende, an dem der „Citizen. European. Pianist.“, wie Levit sich ja selbst genau in dieser Reihenfolge bezeichnet, viel spielt und ein bisschen spricht? Vor allem für Menschen, die nicht dabei waren, vielleicht dies als erstes: Sie haben etwas verpasst.

Geigerin Charlotte Thiele umarmt Pianist Lukas Sternath beim Heidelberger Frühling 2024. © studio visuell photography

Sie haben allein die Beobachtung verpasst, dass der Klassikzirkus sich krass gewandelt hat. In der Brahms-Nacht stehen hochbegabte und überwiegend blutjunge Musikerinnen und Musiker auf der Bühne, die mit Levit vollkommen frei improvisiert und doch eloquent über die zu spielende Musik sprechen. Sie sind dabei unfassbar cool. Souverän. Unkonventionell. Letzteres bezieht sich auch auf die Kleiderordnung. Musikerinnen haben ja ohnehin seit langem Narrenfreiheit. Kurz. Lang. Wallend oder knapp. Man trägt einfach, worauf man Lust hat. Doch nun tut sich auch bei den Männern etwas. Der Frack, so scheint es, hat endgültig ausgedient. Zumindest bei der Kammermusik. Das Betrachten der (immer noch schwarzen) Äußerlichkeiten mag oberflächlich erscheinen. Doch auch Kunst lebt aus einer Kongruenz von Äußerem und Innerem, von Sichtbarem und dem, was sich hinter oder unter der Ästhetik verbirgt. Und wenn der sozial und politisch um Stellungnahme kaum verlegene Levit bei der Brahms-Nacht in einer doch leicht an Militär-Uniformen erinnernden Hose agiert, so muss man das zwar nicht, kann es aber als Statement des Citizens Levit begreifen. Kleider machen eben nicht nur Leute. Sie machen auch Musiker, schaffen Zugehörigkeit, zeigen die Seite, auf der man steht. Gut so.

Mit dem Switchen von h-Moll nach H-Dur knipst Igor Levit das Licht an

Igor Levit muss ja nur auf der Bühne erscheinen, schon ist das (Heidelberger) Auditorium aus dem Häuschen. Er selbst spielt bei der Brahms-Nacht nur ein Stück: das Andante con moto aus den frühen Balladen op. 10. Und wie er gleich zu Beginn mit dem zarten Switchen von h-Moll zu H-Dur die Kantilene langzieht und quasi das Licht anknipst, widerlegt ihn ein bisschen selbst: „Melodien zu spielen, war für mich immer das Zweitwichtigste“, sagt er im Youtube-Video zu Brahms. Viel mehr als am Abend zuvor, als er die 20 Stücke aus den späten Zyklen op. 116 bis 119 gespielt hatte, singt Levit hier die langen, meist über vier Takte laufenden Linien über den motorisch fließenden Akkordbrechungen. Vertikal fein dynamisiert. Das Konkrete, Fassbare, Prosaische liegt ihm eben auch.

Stella Chen, Charlotte Thiele, Sharon Kam, Julia Hagen und Matthew Lipman spielen beim Heidelberger Frühling 2024 das Klarinettenauintett von Johannes Brahms. © studio visuell photography

Bisweilen sitzt er fast da wie früher Glenn Gould. Stark nach vorn gebeugt. Das Gesicht fast an den Tasten. Hochkonzentriert. Der Welt fast abhandengekommen. So drechselt Levit besonders intime Momente kristallin heraus. Das ist ein Extrem. Sein Spiel ist in den Jahren aber auch physischer und plastischer geworden. Ja: radikaler. Das ist in seinem Recital etwa in kräftigen Stücken wie der d-Moll-Fantasie (op. 116), der g-Moll-Ballade (op. 118) oder auch der finalen Es-Dur-Rhapsodie (op. 119) zu erleben, wo ihm der bisweilen weltwütende Affekt wichtiger zu sein scheint als Beauté. Levit geht an Grenzen und über sie hinaus, in dem er synthetisch aus der Dialektik von schön und hässlich nach Welterkenntnis sucht.

Brahms erscheint dann als einer, der während der brutalen industriellen Revolution wie durch einen Zeittunnel hindurch noch Signale aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts empfängt. Wundersam. Unstofflich. Emotional. Und doch spürt man die gewaltige Maschinerie des Fortschritts, wie sie am Nostalgiker vorüber dröhnt. Trocken, transparent, sich gezielt einer wie auch immer gearteten Gefühlsseligkeit verweigernd filetiert er dann etwa das e-Moll-Intermezzo (op. 119), bis das Skelett vor ihm liegt, quasi die reine Struktur. Faszinierend. Dem Jubel der sofort stehenden Menschen entgegnet der sichtlich etwas angeschlagene Levit, indem er - mit Schumann - allem Positivismus entgegentritt, mit der lapidaren Akkordik von „Der Dichter spricht“ („Kinderszenen“), die zeigt, dass der Weg durch den Zeittunnel unweigerlich zu Schumann führt.

Lukas Sternath und Igor Levit sind unterschiedliche Pianistentypen

Die Jugend spricht da nicht unbedingt eine andere Sprache, obwohl etwa Lukas Sternath, Jahrgang 2001, ganz anders Klavier spielt als Levit. Sternath, der bei der dreieinhalb Stunden währenden Brahms-Nacht fast ununterbrochen am Klavier sitzt, ist nicht weniger als eine Sensation. Ein Unterschied zu Levit? Vielleicht, dass er den Klang immer von oben nach unten denkt und nicht wie der „Bassmensch“ Levit von der Tiefe her. Sternaths Klang ist dadurch näher am gewohnten Klavierklang, er ist aber auch geschmeidiger und fügt sich etwa in Brahms’ Meisterwerk Klavierquartett c-Moll, perfekt in den Sound von Geigerin Stella Chen, Bratschist Matthew Lipman und Cellistin Julia Hagen ein. Sie präsentieren eine leidenschaftliche, romantische, beseelte Version von op. 60, genial selbstverständlich in der Abstimmung, total überzeugend.

Stella Chen und Lukas Sternath beim Heidelberger Frühling 2024. © studio visuell photography

Das Konzept dieser Nacht ist wieder ein Sandwich: Das Klavierquartett und Klarinettenquintett (op. 115) mit dem zweiten Star Sharon Kam als Solistin bilden Anfang und Ende des Konzerts mit kleineren Stücke im Mittelteil. Levit stellt ein paar Fragen an die jungen Solisten. Vergnüglich. Auflockernd. Dort gibt es neben Bruch (mit Kam und Lipman) , Lili Boulanger (mit der formidablen Geigerin Charlotte Thiele), der erwähnten Brahms-Ballade und dem spätromantischen Streichquartettsatz aus dem dünnen Werk Anton von Weberns auch eine kleine Reminiszenz an Brahms’ „Guten Abend, gute Nacht“ - fein im Flageolett geflötet von Chen auf der Geige - ein Moment zum Schmunzeln.

Lukas Sternath spielt das alles mit einer Professionalität und Souveränität - fast gespenstisch. Der Mann ist 22! Mathematisch ausgedrückt ergibt das: Geballte Ladung Levit plus geballte Ladung Sternrath plus volle Dröhnung Brahms gleich: Die Menschen sind außer sich vor Freude.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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