Salzburg. Die Revolution fordert Opfer. Gouverneur Abaschwilli wird hingerichtet. Um ihr Leben zu retten, rafft seine Witwe, Fürstin Natella, ihr kostbares Geschmeide und ihre herrlichen Kleider zusammen und ergreift die Flucht. Ihr Sohn, Michel, ist dabei nur im Weg und bleibt allein zurück. Die einfache Magd Grusche erbarmt sich des Kindes und lernt es lieben. „Es ist meins: Ich habs aufgezogen!“ ruft sie verzweifelt, als die nach Ende des Bürgerkriegs heimgekehrte leibliche Mutter es von der Pflegemutter zurückfordert. Der bauernschlaue Dorf-Richter Azdak lässt das Kind in einen Kreidekreis stellen und fordert die Frauen auf, es aus dem Kreis zu sich zu ziehen: „Die wahre Mutter wird die Kraft haben, ihr Kind aus dem Kreis zu reißen.“ Statt, wie die herrische Fürstin, am Kind zu zerren, hat die Magd Mitleid, lässt den Jungen los und erweist sich als die „wahrhaft Mütterliche“. Richter Azdak, von der grenzenlosen Liebe angetan, spricht Grusche das Kind zu, denn „gehören soll, was da ist, denen, die für es gut sind.“
Richterspruch an den Anfang gesetzt
Mit der didaktischen Nutzanwendung, dem Appell an Menschlichkeit und Solidarität und dem Abgesang auf bürgerliche Familienbande endet Bertolt Brechts 1948 in Northfield (Minnesota) uraufgeführtes und 1954 im Berliner Theater am Schiffbauer Damm erstmals in deutscher Sprache inszeniertes Stück „Der kaukasische Kreidekreis“. Helgard Haug, Mitbegründerin und Vor-Denkerin der performativen Konzept-Künstler Rimini Protokoll, setzt den Richterspruch an den Anfang ihrer Brecht-Bearbeitung. Für die Salzburger Festspiele hat sie, zusammen mit HORA, einem aus geistig behinderten Schauspielern bestehenden Ensemble aus Zürich, Brechts mit Revolutionspathos und Polit-Agitprop prall gefülltes Drama gegen den Strich gebürstet und für den von Diversität, Gender-Debatten und politischer Unübersichtlichkeit geprägten Zeitgeist neu gedeutet.
Von Brechts Text-Vorlage und der von Paul Dessau komponierten Musik bleibt dabei nur wenig übrig. Eigentlich nur eine Ruine. Denn die Rahmenhandlung, die Schilderung der Revolutionswirren und die politischen Debatten über Kolchosen und Kollektive, wird ausgemistet. Es geht nicht mehr um soziale Herkunft und gesellschaftliche Kritik, nicht mehr darum, ob, mit Marx gesprochen, „Das Sein das Bewusstsein“ bestimmt. Im Zentrum stehen jetzt Fragen nach Geschlecht und Gefühl, Behinderung und Beziehung. Umso verwunderlicher, dass die sonst so strengen Brecht-Erben einer Aufführung zugestimmt haben. Vielleicht wollten sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen, der wertvollen pädagogischen Arbeit mit Behinderten und einem Bühnen-Diskurs über Inklusion und Integration im Wege zu stehen.
Der Kreidekreis ist schnell auf die Bühne gekritzelt, Azdaks Richterspruch flugs getan. Jetzt können die HORA-Akteure verschiedene Rollen und Kostüme, Sprech- und Spielweisen ausprobieren, in der ollen Brecht-Story ein bisschen herumstöbern, mal vor- und mal zurückspulen. Zur Live-Musik von HORA-Mitglied Minhye Ko, die furios ihre Schlaginstrumente bearbeitet und atmosphärisch dichte Klang-Teppiche webt, zeigen die Darsteller ihre seelischen und körperlichen Wunden, stellen sie sich als verletzte und verletzliche Mitmenschen vor, erzählen von ihrem Leben mit dem Down-Syndrom, ihren Wünschen und Hoffnungen, fragen sich, ob sie, als Behinderte, je selbst ein Kind haben werden, spielen noch einmal die Theater-Proben nach, die sie unter Anleitung von Helgard Haug erlebt und erlitten haben. Ein Schauspieler, dem die Reise von Zürich nach Salzburg nicht zuzumuten war, wird per Video zugeschaltet. Immer wieder wird die von Licht-Spielen und Sound-Effekten begleitete Suche nach dem „wahrhaften Mütterlichen“ unterbrochen, vermischen sich private und politische Geschichten, wird das Publikum einbezogen und befragt. Ein Buch, randvoll mit Fotos und Texten des HORA-Ensembles, wird in einer Lesepause an alle Zuschauer verteilt.
Auch, wenn Brecht und Dessau nur noch von fern winken und die große Welt-Revolution nur noch eine Fata Morgana ist: Es ist ein berührender, bewegender Abend. Vielleicht gerade deshalb, weil die Inszenierung einen Bruch mit den hinlänglich erprobten Mitteln von Rimini Protokoll darstellt.
Private Schicksale fließen ein
Die „Experten aus der Wirklichkeit“ und „Spezialisten des Alltags“ sind diesmal keine Laien und Amateure, keine Manager, die über die Abgründe des Kapitalismus räsonieren, keine Arbeiter, die ihrer Entfremdung und Ausbeutung auf der Bühne Ausdruck verleihen, sondern professionelle behinderte Schauspieler, die ihr privates Schicksal mit einem politischen Drama verknüpfen und es für sich neu buchstabieren und völlig unerwartet umdeuten. Brecht, dem genialen Text-Räuber und Ideen-Verwerter, dessen Dramen Darsteller und Publikum belehren und befreien sollten, hätte das bestimmt gefallen.
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