Mannheim. Wo anfangen? Bei der unerträglichen Leichtigkeit, die Vilde Frang in Bergs Violinkonzert dem Andenken eines Engels mit auf den Weg gibt? Bei den unfassbar spannenden, elend langen und tiefe Bedrückung verbreitenden Streicherphrasen in Schostakowitschs Achter - etwa gleich zu Beginn, wenn erst nach Minuten dramatischer Trostlosigkeit die ersten Flöten aufblitzen. Oder beim ultimativen Pianissimo etwa des himmlischen C-Dur-Schlusses, bei dem man sich fragt: Hörst du noch (auf Erden), oder schwebst du schon (im Himmel)? Alles an diesem Abend mit dem SWR Symphonieorchester und Chefdirigent Teodor Currentzis ist ein Superlativ.
Ja, Currentzis gleicht auch im ausverkauften Mozartsaal bisweilen fast Louis-de-Funès-artig einer Art Kasperfigur, die, während manch Musikerin erstaunlich bürokratisch dreinblickt, auf dem ihr zur Verfügung stehenden Quadratmeter am Pult ein Theaterstück aufzuführen scheint, das vielleicht auch euphorisch überschwappen würde, wenn vor ihr gar kein Orchester sitzen würde.
Ja, Currentzis ist - und das seit vielen Jahren - der griechisch-russische Shootingstar der Szene, der auch Leute außerhalb elitärer Klassikkennerschaften erreicht, weil er früh mit vielen Verkrustungen und Benimmregeln des Systems gebrochen hat - vom springerstiefelartigen Schuhwerk über Ohrpiercings bis hin zur formeleinsartigen Rasanz etwa in Mozarts Da-Ponte-Opern.
Und ja, Currentzis gilt als musikalisch totalitär und kompromisslos denkend, es geht ihm, wie man auch in Mannheim erleben konnte, um nicht weniger als das Ganze.
Putin schadet auch Currentzis
Und dann wäre da ja noch dieses Andere: die Politik. In teils unerträglich moralischer Selbstgerechtigkeit werden Currentzis uns sein Orchester - wie Anna Netrebko oder Valery Gergiew - ausgeladen, obwohl Currentzis nie wie die beiden Genannten in staatliche Strukturen eingebunden war, obwohl er nicht die Nähe Putins gesucht oder sich gar als dessen Freund bezeichnet hat. Sein Fehler: Er hat sich öffentlich bis heute nicht eindeutig vom Kremlchef und dem Krieg gegen die Ukraine distanziert, allein: Wer in Russland von Krieg spricht, dem droht Gefängnis.
Dennoch: Würde er sein radikales musikalisches Denken auf die moralische Ebene heben, müsste er etwas sagen, denn: Wer in Deutschland nicht mit der Mehrheit konform denkt, wird verstoßen - verwunderlich vielleicht gerade in diesem Land, das innerhalb eines Jahrhunderts radikal zwei Diktaturen durchdekliniert hat, die freie Meinungsäußerung nicht zuließen. Heute verbieten Mehrheiten sie.
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Hier geht es aber doch um die Musik, was bei Currentzis immer heißt: um Leben und Tod, um die universelle Unendlichkeit unserer Emotionen. So gelingt ihm, eine Hand noch in der Hosentasche, zusammen mit Vilde Frang gleich in Bergs Violinkonzert mit seinen charakteristischen hohlen Quinten (g-d-a-e) eine lyrische Erzählung, die an Plastizität nicht zu übertreffen ist. Frangs Ton fügt sich geschmeidig in diese Gefühlsausschüttung ein. Er ist stets dicht, beseelt, natürlich und von menschlichem Atmen geprägt, der selbst dann nicht abreißt, wenn die Osloerin die vielen Drei- und Vierklänge auf ihrer kleinen Geige groß werden lässt, oder wenn sie in Bergs spärlich begleiteter Solo-Kadenz (Satz 2) mit sich selbst Duo spielt und in frappierender Perfektion die Kantilene mit links gezupften Quinten fusioniert und so Reminiszenzen ans Ursprungsthema des Werks ins Gedächtnis ruft.
Das alles spielt diese Frau mit einer Nonchalance und Teilnahme, die berühren und im Ausklang des Schlusses, wenn sie auf dem stratosphärischen g’’’’ verweilt und Gong, Becken sowie Tamtam ausklingen, zu einem Pianissimo-Schock führen. Als Zugabe spielt Frang ein Solowerk ihres Opas Finn Arnestad, das ein bisschen wie die expressionistische Version einer Bach-Sarabande klingt. Was für eine Geigerin!
Sieg der Humanität über Krieg
Und wie perfekt die einstigen SWR-Orchester aus Stuttgart und Baden-Baden - nach unüberhörbaren Dissonanzen 2016 - heute fusioniert sind, zeigt dabei nicht nur der fantastisch musizierte Holzbläsersatz in Bergs Bachchoralzitat „Es ist genug“ mit dem „Mein Jesus kömmt! Nun gute Nacht, o Welt! Ich fahr ins Himmelshaus“. Es präsentiert sich hier auch sonst als zur Weltspitze gehörend. Schostakowitsch scheint Currentzis besonders zu liegen. Er scheint nicht eine Partitur zu dirigieren. Vielmehr scheint er in die Seelenzustände hineinzuschlüpfen, die Schostakowitsch ziemlich genau vor 80 Jahren beschrieben hatte: Leningrad nach der katastrophalen Isolation durch die Wehrmacht, die die Stadt systematisch von der Versorgung abschnitt und über eine Million Zivilisten hat sterben lassen (Gedanken an die Ukraine sind da unvermeidlich).
Das Wüste, Öde und Morbide, die Hässlichkeit des Hasses, sie sind deutlich spürbar, und wie der SWR und Currentzis das spielen - hat jemals ein Orchester in Mannheim so leise und dabei so homogen gespielt? Man muss die aktivistischen Gesten Currentzis’ nicht mögen und lieber die Augen schließen, aber der SWR macht alles richtig. Das Adagio ist ein perfekt fotografiertes Schreckensbild, das Allegretto ein ironischer Tanz, das Allegro erschreckend unmenschliche Mechanik, das Largo katastrophische Ahnung und das Finale mit seinen vielen Soli und Kammermusiken ein gespenstischer Sieg der Humanität über den Krieg.
Da klingt der finale Jubel im Rosengarten nach einer gefühlt ewigen Andachtsminute fast unanständig. Gerechtfertigt ist er. Diejenigen, die diesen Abend erlebt haben, werden ihn eines Tages mit ins Grab nehmen.
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