Mannheim. Es ist ein opulentes Werk, zweifellos ein Standardwerk, und es dauert eine Weile, es in seiner Bedeutung auch nur annähernd zu erfassen. Titel: „Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland“. Ziel: eine Bestandsaufnahme von „Kunst und Kultur aus Kamerun in deutschen Museen“ - so lautet auch der Name des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten vorangegangenen Projekts. Die Buchdaten: 520 großformatige Seiten, die einen gesonderten Bildteil, Literaturhinweise, exemplarische Biografien von Akteuren, Grafiken, Landkarten, Schautafeln, Zeichnungen, Statistiken, Anmerkungen, Webhinweise und einen QR-Code enthalten.
Die Grundlage für Gespräche
Und vor allem: 16 Textkapitel, die klug vier Begriffen zugewiesen sind - Akteure, Objekte, Nutzen, Und jetzt? -, und die von Kolonisierung über „Aneignung“ der Kulturgüter sowie dem musealen und wissenschaftlichen Umgang zu der Frage führen, wie heute mit diesen Objekten umzugehen ist. Diese Texte bilden auch die Grundlage der Gespräche ab 14. Januar in Stuttgart, wo sich Verantwortliche von elf Museen mit Delegierten eines interministeriellen Komitees für die Rückführung illegal ausgeführter Kulturgüter sowie mit Vertretern traditioneller Königshäuser aus Kamerun treffen.
Wissenschaftliche Kooperation
Koordiniert haben die Herausgabe dieses - übrigens von der Universitätsbibliothek Heidelberg im Dietrich Reimer Verlag produzierten - Katalogs die weithin bekannte Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und ihre Mitarbeiterin Andrea Meyer. Savoy war auch, gemeinsam mit dem kamerunischen Germanistikprofessor und Kulturwissenschaftler Albert Gouaffo - er promovierte einst in Saarbrücken -, Leiterin des DFG-Projekts.
Beeindruckend ist trotz der Materialfülle die Übersichtlichkeit und Benutzerfreundlichkeit dieses Bandes. Ein Beispiel: Wer wissen will, wie viele Objekte das „Sammlerpaar“ Franz und Marie-Pauline Thorbecke nach Deutschland holte, und wie viele Objekte Franz Thorbecke zusätzlich allein, sieht sofort: 754 sowie 270. Mit zusammengerechnet 1024 Objekten liegt das Paar an achter Sammlerstelle, gleich hinter dem Kolonialoffizier Hans Dominik.
Beispiel Mannheim
Und wie viele Objekte verzeichnen die Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim, wo sich die Sammlung Thorbecke befindet? 1789 sind es, Platz 9 für die Reiss-Engelhorn-Museen, mit Abstand weit hinter dem Linden-Museum in Stuttgart mit 8871 Objekten. Damit verfügen Museen in Deutschland im weltweiten Vergleich über den meisten Bestand an Kulturgütern aus Kamerun (40 000 Objekte), deutlich mehr als Frankreich (7840 im Pariser Museum Quai Branly), Großbritannien (1468 im British Museum London) oder Kamerun (6000 in den staatlichen Sammlungen von Yaoundé).
Großer Kreis an Mitarbeitern
Von Verbitterung, Vorhaltungen oder Vorwürfen sind die Autorinnen und Autoren dieses Kompendiums angesichts dieses Zahlenvergleichs indes weit entfernt. Schon des Respekts für ihre Leistung wegen seien sie zusätzlich zu Gouaffo, Sayoy und Meyer ebenfalls namentlich genannt (wer die Namen überspringen will, liest bei der nächsten Zwischenzeile weiter): Mikaél Assilkinga, Lindiwe Breuer, Fogha Mc. Cornilius Refem, Dieu Ly Hoang, Yann LeGall, Yrine Matchinda, Prince Kum’a Ndumbe III, Philippe Rekacewicz, Sebastian-Manès Sprute, Richard Tsogang Fossi und Eyke Vonderau.
Entzogene Geschichte
Obwohl somit Kameruns Kulturerbe hauptsächlich in Deutschland weilt, ist es hierzulande wenig bekannt. Und weil es in Kamerun fehlt, ist es dort ebenfalls weitgehend unbekannt. Daher der Titel dieser Publikation: „Atlas der Abwesenheit“. Mit der Wahrnehmung ist es sowieso so eine Sache: Im Humboldt-Forum Berlin befindet sich zwar einer der spektakulärsten Throne aus Kamerun, aber gegen das Ischtar-Tor im Pergamon-Museum oder das schmale Luf-Boot ebenfalls im Humboldt-Forum kann dieser prunkvolle Thron des Sultans Njoya aus Foumban im europäischen Blick kaum punkten. Wirkt da immer noch exotische Verklärung einerseits und abschätzige Entwertung andererseits nach?
Dilemma der Dokumentation
Abwesenheit lässt ein Kind nicht gedeihen, lautet ein Sprichwort, das aus Ghana stammt, aber auch auf Kamerun zutreffen mag: Wie entwickelt sich eine Gesellschaft, der die Geschichte fehlt beziehungsweise ein aufgrund abhandengekommener Erinnerungsstücke wirkungsvolles Geschichtsbewusstsein?
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Antworten wollen oder können die Autoren dieses Gemeinschaftswerks darauf nicht geben. In ihren Beiträgen fächern sie zunächst die Dimension und kulturellen Folgen dieses Kulturverlusts auf, und das ist erst einmal erschreckend genug. Denn die Zahl 40 000 bezeichnet ja nur die dokumentierten entwendeten Stücke - aber was ist mit denen vielen und teils nicht verzeichneten Objekten, die nicht unter diesen Begriff musealer Kulturgüter fallen: Bücher aus Bibliotheken, Pflanzen aus der Natur, menschliche Überreste aus Gräbern?
Ernüchternde Bestandsaufnahme
So ist der „Atlas der Abwesenheit“ zunächst einmal eine ernüchternde Bestandsaufnahme. Und zwar eine Bestandsaufnahme nicht nur der entwendeten Objekte, sondern auch der Geschichte und der Geschichten, die mit ihnen und ihrer Entwendung verknüpft sind. So etwa die anhaltende Diskussion über den Verbleib des Throns aus Foumban, dessen Übergabe den einen Geschenk, den anderen Erpressung war.
Immaterielle Schätze
Und das ist womöglich die wesentliche erste Lektion, die es zu lernen gilt und weshalb in dem Buch auch nicht bloß von Kulturgütern, sondern vielmehr von Kulturerbe die Rede ist: Mit den materiellen Gegenständen versanken auch immaterielle Schätze in der Vergessenheit. Und so, wie es darum gehen muss, die Kulturgüter aus den Depots der Museen zu holen, so muss es auch darum gehen, die zugehörige(n) Geschichte(n) wieder ins Bewusstsein zu heben.
Atlas der Abwesenheit. 520 S., Dietrich Reimer Verlag, 49 Euro
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